Mehr Geld für die Malocher

VERDIENST Wenn der Mindestlohn kommt, verbessert er die finanzielle Situation von fast 300.000 Berlinern – sagt der Senat. Doch die Gewerkschaften warnen vor Ausweichmanövern der Arbeitgeber

■ Anfang Juli geht der Bundestag in seine zweimonatige Sommerpause – bis dahin will die schwarz-rote Koalition das sogenannte Tarifautonomiestärkungsgesetz verabschiedet haben. Dessen Kernbestandteil ist ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohns von 8,50 Euro pro Stunde. Nach den Beratungen im Bundesrat im September soll der Mindestlohn ab 1. Januar 2015 eingeführt werden.

■ Gelten soll er für Arbeitnehmer in ganz Deutschland – nicht für alle, aber für die meisten. Laut dem Gesetzentwurf von Bundesarbeitministerin Andrea Nahles (SPD), den das Kabinett Anfang April verabschiedet hat, soll der Mindestlohn für folgende Gruppen nicht gelten: Ehrenamtliche, Auszubildende, Menschen unter 18 Jahren ohne Berufsausbildung und Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten einer neuen Beschäftigung. Außerdem sind Pflichtpraktika sowie freiwillige Praktika, die nicht länger als sechs Wochen dauern, ausgenommen.

■ Für alle anderen Beschäftigungsverhältnisse gilt der Mindestlohn spätestens ab 2017. Denn bis dahin sollen Übergangsfristen für alte Mindestlohntarifverträge gelten – eben auch solche, die weniger als 8,50 Euro pro Stunde vorsehen. Ab 2018 soll jährlich eine Mindestlohnkommission entscheiden, ob der Satz von 8,50 Euro verändert wird, weil etwa die Lebenshaltungskosten gestiegen sind. In der Kommission sitzen drei Arbeitnehmer- und drei Arbeitgebervertreter, jeweils ein von beiden Seiten vorgeschlagener Wissenschaftler ohne Stimmrecht sowie ein gemeinsam auserkorener Vorsitzender. (sepu)

VON SEBASTIAN PUSCHNER

Wer sich das nächste Mal ein Taxi ruft, kann seinem Gesprächspartner am Telefon gratulieren. Denn Telefonisten in Berlins Taxigewerbe dürfte die geplante Einführung des allgemeinen Mindestlohns von 8,50 Euro pro Stunde ziemlich freuen: Zwischen 5 und 7,35 Euro verdienen sie laut ihrem gültigen Tarifvertrag derzeit, je nach Dauer der Berufszugehörigkeit – und zählen damit zu den Niedriglöhnern Berlins. 8,50 statt 5 Euro die Stunde: Das macht im Monat 1.480 statt 870 Euro. Eine ganze Menge.

Vielleicht aber wird der Gesprächspartner am Taxi-Telefon den Glückwunsch zurückweisen. Zum Beispiel, wenn er vorher ein Jahr oder länger arbeitslos war. Dann gilt der Mindestlohn für ihn nicht: Wie alle Menschen unter 18 Jahren – wie Azubis und die meisten Praktiktanten – zählen Langzeitarbeitslose während ihres ersten halben Jahres in einem neuen Job zu denen, die die schwarz-rote Bundesregierung vom Mindestlohn ausnehmen will. Für alle anderen Angestellten im Land darf es spätestens ab 2017 nicht weniger als 8,50 Euro pro Stunde geben; bis Oktober soll der Entwurf von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) Bundestag und Bundesrat passiert haben (siehe Kasten).

Geht es nach Christian Amsinck, dann sollten sich die Taxi-Telefonisten wohl eher Sorgen um ihre Jobs machen. Amsinck ist Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Unternehmensverbände in Berlin und Brandenburg (UVB). „Tausende Arbeitsplätze“ sieht er in der Region davon „unmittelbar bedroht“. Denn ein flächendeckender, einheitlicher Mindestlohn von Berchtesgaden bis Brandenburg widerspreche jeder Lebenswirklichkeit, meint Amsinck.

Für Arbeitende in Berlin bedeutet diese Lebenswirklichkeit nicht selten: Niedriglohnsektor. 16 Prozent der Beschäftigten zählen zu diesem. Sie verdienen weniger als 1.379 Euro brutto im Monat, weniger als zwei Drittel des Durchschnittseinkommens aller sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten also. Berlins Niedriglohnsektor ist in den vergangenen Jahren gewachsen, im Jahr 2000 lag er noch bei 11 Prozent. Gerade im Dienstleistungsbereich, in dem in Berlin fast 90 Prozent der Beschäftigten arbeiten, sind niedrige Löhne oft die Regel.

Nachvollziehbar also, dass Berlins SPD-Arbeitssenatorin Dilek Kolat der Stadt spürbare Verbesserungen durch den Mindestlohn prophezeit: „Allein in Berlin würden etwa 200.000 Menschen in Betrieben mit mehr als zehn Beschäftigten von ihm profitieren, dazu kommen rund 70.000 Minijobberinnen und Minijobber“, so Kolat. Leiharbeit, das Gastgewerbe, die Gebäudebetreuung und den Einzelhandel – diese Branchen hat die Senatsverwaltung für Arbeit als diejenigen identifiziert, in denen sich das Einkommen der meisten Angestellten verbessern werde.

Tatsächlich überschreiten in den kommenden Jahren etliche Arbeitnehmer in Berlin die 8,50-Euro-Schwelle, selbst wenn das Mindestlohngesetz der Großen Koalition im Bund entgegen den Erwartungen noch scheitern sollte. Denn in manch einer Branche haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich auf Mindestlöhne geeinigt, die die Bundesregierung dann für allgemein verbindlich erklärt hat. So müssen etwa Leiharbeiter seit April mindestens 7,86 Euro pro Stunde, in einem Jahr 8,20 Euro und ab Juni 2016 schließlich 8,50 Euro erhalten. Berlins Friseure bekommen ab August mindestens 7,50 Euro, ein Jahr später dann 8,50 Euro.

Hier würde das Mindestlohngesetz erst später greifen: Denn die Große Koalition im Bund will für Tarifverträge, die bis Ende 2014 geschlossen wurden, Übergangsfristen gelten lassen. Das könnte etwa den Wachschutz betreffen, auch eine klassische Niedriglohnbranche der Stadt: Hier verhandeln die Tarifparteien aktuell über einen Vertrag.

Diese Verhandlungen hat Gewerkschaftssekretär Sebastian Riesner schon hinter sich: Für die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) hat er mit Arbeitgebern in Berlins Hotel- und Gaststättengewerbe vereinbart, was die dort Angestellten verdienen sollen. In der niedrigsten Entgeltgruppe, als Spüler oder Garagenwärter, sind das 8,68 Euro in der Stunde. Trotzdem sei der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro auch für Spüler und Garagenwärter extrem wichtig, sagt Riesner. Denn die Zahl der Unternehmen, die sich in der Branche an den derzeit gültigen Tarifvertrag hält, sei empörend gering: „Ich schätze, dass die Tarifbindung in Berlin bei höchstens 20 Prozent liegt, was die Arbeitgeber natürlich bestreiten“, sagt Riesner. „Aber Belastbares hat dazu noch keiner auf den Tisch gelegt.“ Bundesweite Zahlen lassen vermuten, dass Riesner so weit von der Realität nicht entfernt liegt: Für nur 28 Prozent der Betriebe und 37 Prozent der Beschäftigten im Gastgewerbe gilt eine Tarifvereinbarung. In den Ost-Bundesländern sind es 21 und 29 Prozent.

Auch den nahenden Mindestlohn würden sicher einige zu unterlaufen versuchen, sagt Riesner voraus: „Wir hören jetzt schon von Hotels, in denen eben nicht mehr Reinigungsfirmen beauftragt werden, sondern selbstständige Zimmerfrauen, die mit Pauschalen bezahlt werden.“ Für Selbständige wiederum gilt der Mindestlohn nicht. Und 14 Prozent der in Berlin Erwerbstätigen sind selbstständig, so viele wie in keinem anderen Bundesland. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 11 Prozent.

Selbständigkeit muss zwar nicht zwangsläufig mit einem niedrigen Einkommen einhergehen – im Gegenteil: die große Mehrheit der Selbstständigen verdient netto 2.000 Euro oder mehr im Monat. Doch ein Spätkaufbetreiber, der sieben Tage pro Woche selbst in seinem Laden sitzt, hat vom Mindestlohn nichts. Bundesweit verdient knapp ein Drittel der Solo-Selbstständigen ohne Angestellte laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung unter 8,50 Euro die Stunde.

Darunter dürften etliche der freischaffenden Künstler in Berlin sein. Bei ihnen heißt der Mindestlohn „Honoraruntergrenze“ und beträgt bei voller Arbeit 2.000 Euro im Monat. Die solle der Senat für all seine Theater-, Tanz- und anderen Kultur-Förderprogramme verbindlich machen, fordert seit 2009 der Landesverband freie Theaterschaffende Berlin (LAFT). „Dass der allgemeine Mindestlohn jetzt kommt, ist Wasser auf unsere Mühlen“, sagt LAFT-Vorstandsmitglied Elisa Müller. Denn wenn es einen Mindestlohn für Angestellte brauche, dann könne man Künstlern Ähnliches wohl kaum verwehren: „Mehr als die Hälfte aller Freischaffenden verdient im Jahr weniger als 10.000 Euro netto“, zitiert Müller den 2010 erschienenen „Report darstellende Künste“.

Für Arbeitende in Berlin bedeutet die Wirklichkeit nicht selten: Niedriglohnsektor

In Berlin gibt es bereits ein seit 1. Januar gültiges Gesetz, auf das sich alle beziehen können, deren Arbeit das Land Berlin bezahlt: das Landesmindestlohngesetz. Es besagt, dass diese Arbeit nicht weniger als 8,50 Euro pro Stunde kosten darf. Noch ist unklar, wie der Senat das Gesetz genau umsetzen wird. Soll es aber etwa in der Kulturförderung Realität werden, muss etwas passieren: Entweder es gibt mehr Geld aus dem Haushalt – der LAFT taxiert etwa den Mehrbedarf für die darstellende Kunst auf 4,5 Millionen Euro. Oder aber der Senat reduziert die Zahl der Förderungen – bis zu zwei Drittel der Projekte könnten gefährdet sein, so Befürchtungen. „Stattdessen müssen Mehreinnahmen, die Berlin etwa mit der City Tax macht, viel stärker der freien Szene zugutekommen“, fordert Müller.

Ungeklärt ist derzeit auch, was das Landesmindestlohngesetz für den öffentlichen Beschäftigungssektor bedeutet. Hier hatte sich Senatorin Kolat einst gegen die SPD-Fraktion durchgesetzt und das Minimum auf 7,50 statt 8,50 Euro angesetzt. Jetzt steigt der Satz um einen Euro. „SPD und CDU haben zwar ein Landesmindestlohngesetz verabschiedet, nicht aber den damit verbundenen Mehrbedarf im aktuellen Haushalt eingeplant“, kritisiert die Grünen-Arbeitsmarktpolitikerin Sabine Bangert. Auch hier drohten also Stellenkürzungen, etwa bei Jobprogrammen wie der „Förderung von Arbeitsverhältnissen“.

Dass die öffentliche Hand in Sachen Mindestlohn noch für etwas ganz anderes mehr Geld in die Hand nehmen sollte, daran erinnert Astrid Westhoff, in Berlin-Brandenburgs Ver.di-Landesvorstand für Tarifpolitik zuständig: für eine wirksame Kontrolle des Mindestlohngesetzes. Nach Nahles’ Gesetzentwurf soll sich darum der Zoll mit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit kümmern. „Aber diese ist jetzt schon für die Bekämpfung der Schwarzarbeit unzureichend ausgestattet“, sagt Westhoff. „Da sehe ich im wahrsten Sinne des Wortes schwarz.“ Noch schlimmer findet sie die von SPD und CDU geplanten Ausnahmen für Langzeitarbeitslose. „Das untergräbt völlig die existenzsichernde Funktion des Mindestlohns.“

Richtiggehend in Rage bringt Westhoff vor allem eine Argumentation der Arbeitgeber. Berlins oberster Unternehmervertreter, Christian Amsinck von der Vereinigung der Unternehmensverbände, formuliert jenes Argument so: „Der Mindestlohn setzt einen Fehlanreiz, der junge Menschen dazu veranlassen kann, sich gegen eine Berufsausbildung zu entscheiden.“ Jugendliche würden sich künftig nach der Schule lieber eine Hilfsjob mit Mindestlohn als eine Ausbildung suchen, für die er nicht gilt; in Ausbildungsberufen wie Bäcker, Buchbinder und Friseur gibt es weniger als 500 Euro pro Monat. Der Befürchtung der Unternehmen ist die SPD mit dem Einziehen der Altersgrenze bei 18 entgegengekommen. „Das Durchschnittsalter bei Beginn einer Berufsausbildung liegt in Berlin aber bei 21,2 Jahren“, sagt UVB-Chef Amsinck. Deshalb müsse die Altersgrenze deutlich angehoben werden.

Das also bringt Astrid Westhoff von Ver.di auf die Palme. „Ich lehne eine Altersgrenze wie alle vorgesehenen Ausnahmen komplett ab“, sagt sie. Die Arbeitgeber würden ihrer Verantwortung auf dem Ausbildungsplatzmarkt nicht gerecht und versuchten nun, den Mindestlohn zum Sündenbock zu machen. „Jungen Menschen geht es darum, ob sie nach einer Ausbildung mit der Übernahme in ein festes Arbeitsverhältnis rechnen könnten oder nicht.“ Und das hätten die Arbeitgeber in der eigenen Hand.