herr tietz macht einen weiten einwurf
: Die Kunst der Beckenrandwende

Schülererinnerungen: Der Boykott des Circuittrainings, die Tränen eines Sportlehrers und ein unerwarteter Sieg im Schwimmbassin

Meine ehemalige Schule wird vierhundertfünfzig Jahre alt. Aus diesem Anlass soll eine Festschrift erscheinen. Ob ich für deren Erinnerungsteil „etwas Anekdotenhaftes, Reflektiertes“ über meine Schulzeit beisteuern könne, so wurde jetzt freundlich angefragt. Man denke etwa an jenen Vorfall, den ich in meinem letzten Buch andeutungsweise habe aufleuchten lassen. Es sei durchaus vorstellbar, dass die Schulgemeinde mehr über diese Sache erfahren möchte.

Selbstverständlich habe ich einen Beitrag für die Festschrift zugesichert. Auf besagten Vorfall werde ich darin allerdings nicht eingehen. In meinem erwähnten Buch ist dazu bereits alles gesagt. Getarnt als Widmung, entschuldige ich mich da „bei meinem langjährigen und überaus verdienten Sportlehrer Herrn Dieter Halle für die im Schuljahr 1975 unter meiner maßgeblichen Rädelsführerschaft angezettelte Boykottaktion eines von ihm anberaumten Circuittrainings; dieses zu verhindern hatte ich meine Klassenkameraden angestiftet, sämtliche beweglichen Sportgeräte aus den Geräteräumen zu schleppen und die Turnhalle damit so zuzustellen, dass weder das Circuittraining noch sonst ein Sportunterricht möglich war. Herr Halle zeigte sich über diese Sabotageaktion so enttäuscht, dass er in Tränen ausbrach. Das tut mir noch heute leid.“ So viel dazu.

Gut, ich könnte noch ergänzen, dass, nachdem Herr Halle weinend aus der Turnhalle gerannt war, wir Schüler, vom schlechten Gewissen schwer gepeinigt, sofort sämtliches Gerät – also Barren, Turnmattenwagen, Böcke, Kästen, Trampoline, Reckstangen usw. – wieder in die Gerätekammern räumten und, als sportliche Sühne gewissermaßen für unser unsportliches Verhalten, unter eigener Regie immerhin noch ein kleines Fußballspiel aufzogen. Da kann man mal sehen. Dass wir nämlich nach unserer Meuterei sofort wussten: Einen so gemeinen Aufstand hatte gerade dieser Lehrer nicht verdient. Denn eigentlich war Herr Halle, wie schon in der Widmung angedeutet, nicht nur ein überaus tüchtiger und engagierter Leibes- und Lebenserzieher, sondern vor allem ein ausnehmend aufrichtiger und umgänglicher, ja geradezu liebenswürdiger Mensch.

Dem ich überdies die einzige Erstplatzierung in meiner Schulsportkarriere zu verdanken habe, wie ich vielleicht auch noch anmerken sollte. Dies umso mehr, weil mir das ausgerechnet bei einem Schwimmwettbewerb gelang. Dabei bin ich niemals ein auch nur annähernd tauglicher Schwimmer gewesen. Und dennoch … Es geschah bei den Stadtmeisterschaften der höheren Schulen. Nicht dass ich mich aus freien Stücken daran beteiligt hätte. Herr Halle war’s, der mich zur Teilnahme überredete, weil, wie er mich eindringlich zu beknien wusste, es doch ein ziemlich beschämendes Armutszeugnis für unser Institut sei, wenn es bei diesem repräsentablen Sportwettbewerb keinen Vertreter meiner Altersklasse stellen könne. Davon ließ ich mich überzeugen. Und fand mich brav zu den paar Trainingsterminen ein, die mir bis zum Wettkampf noch blieben. Merklich schneller schwimmen konnte ich danach nicht. Was mich Herr Halle aber in diesen wenigen Trainingsstunden immer wieder üben ließ, war die exakt auszuführende Beckenrandwende. Und so kam es, dass ich in meinem Rennen über 50 Meter Brust zwar um Längen distanziert als Letzter anschlug, alle meine Gegner aber anschließend disqualifiziert wurden. Sie hatten den Beckenrand an der 25-Meter-Wendemarke regelwidrig nur mit einer Hand statt, wie es mir von Herrn Halle so akkurat eingebläut worden war, beidhändig berührt.

Noch Jahre danach war im gläsernen Trophäenschrein unserer Schule jene Urkunde ausgestellt, die mich als Erstplatzierten dieses denkwürdigen Rennens auswies. Von den Disqualifikationen der anderen war darauf nichts zu lesen. Von Herrn Halle allerdings auch nichts. Dabei ging doch mein Sieg maßgeblich mit auf seine Kappe, wie ich, wenn schon nicht in der Jubiläumsschrift, so doch wenigstens an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betonen möchte.