wie ich den groove entdeckte von HARTMUT EL KURDI
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Mein deutsches Mütterlein hatte ihn nicht, den Groove, beziehungsweise nur den urgermanische Marsch-Groove: Einszwodreivier, einszwodreivier. Aber dieser Groove groovt ja nicht. Der rumpelt ja, der humpelt ja und holt der Königin ihr Kind.

Mein Vater hätte als Araber theoretisch etwas Hüftbewegenderes in sich tragen können. Im Nahen Osten wird ja gern getrommelt. Und erfreulicherweise betont man dabei nicht immer nur die „1“ im 4/4-Takt, wie es Konzertbesucher hierzulande tun, wenn sie enthemmt im vermeintlichen Rhythmus der Musik mitklatschen, egal ob sie in einem Funk-, Reggae- oder Rockabilly-Konzert sitzen: Immer auf die „1“ ! Auch wenn die ganze Band hypnotisch auf die „2“ oder „3“ drischt. Mein Vater war aber, obwohl Orientale, kein rhythmisch begabter Sufi-Trommler, sondern ein Fan der ägyptischen Schlagersängerin Umm Kulthum, die den sentimentalen arabischen Jammergesang pflegte, der relativ unstrukturiert vor sich hin eiert. Also auch nichts mit Groove.

Einen kleinen biografischen Vorteil habe ich dennoch: Als Kind durfte ich in London leben. Von 1965 bis 1970. Im Swinging London der Beatles, Stones, Who und Kinks. Und bei uns dudelte den ganzen Tag das Radio. Diese prähistorische Pop-Berieselung war meine musikalische Früherziehung, inklusive eines para-religiösen Erweckungserlebnisses.

Selbst habe ich nur fragmentarische Erinnerungen daran. Familienmitglieder berichten, dass es sich folgendermaßen zugetragen haben soll: Knapp zweijährig spielte ich im Wohnzimmer mit meinen Matchboxautos, friedlich, entspannt, bis ein Song aus dem Radio plötzlich eine Art positiven Krampfanfall bei mir auslöste. Meine Augen sollen sich geweitet haben, ich schnappte nach Luft, das Auto fiel mir aus der Hand, ich zeigte ungläubig auf den Rundfunkapparat und stammelte „Baby Baby“. Der Song, der mich so ergriff, war nämlich: „My Baby Baby balla balla“ von den Rainbows, die kurioserweise die einzige deutsche Beatband mit einer internationalen Hitsingle waren.

Zu Hause landete die Combo noch ein paar andere Chart-Kracher, mit so blumigen Titeln wie „Rotkarierte Petersilie“ und „Kommando Pimperle“. Die kannte ich aber nicht, ich kannte und hörte nur „My Baby Baby Balla Balla“. Im Hier und Jetzt und in der BBC. Nach dem ersten Schock hatte ich – so die Berichte – begonnen mitzusingen und dann langsam meinen gewindelten Popo im Rhythmus der Musik in Bewegung gesetzt. Mein Gesichtsausdruck muss dabei zwischen Entrückung und Ekstase oszilliert haben. Dann war der Song zu Ende, und ich musste bitterlich weinen.

Meiner Mutter zufolge brabbelte ich noch wochenlang „Balla Balla“, drehte mich im Kreis und klatschte beseelt in die Hände. Meine Eltern waren verstört. Und beeindruckt. Sie müssen gespürt haben, dass da etwas Metaphysisches, Mystisches passiert war. Ich hatte eine für sie verschlossene Tür aufgestoßen: Ich hatte den Groove entdeckt.

Kurze Zeit später schenkte mir mein Vater die „Balla-Balla“-Single, den Tonträger meiner rhythmischen Erleuchtung. Gern würde ich behaupten: Ab diesem Tag war mein Leben ein einziges Fußwippen. Aber ihr wisst ja, wie es so ist …