die taz vor zehn jahren über die zukunft der gewerkschaften
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Es fehlt den Gewerkschaften heute nicht an perspektivisch denkenden Köpfen, die auch der leisen Töne mächtig sind – von Walter Riester über Herbert Mai bis zu Detlef Hensche. Auf der Seite der Arbeitgeber muß man schon weit suchen, bis man überlegte Leute dieser Art findet. Aber große Organisationen lernen entsetzlich langsam. Und besonders die Gewerkschaften. Denn wenn sie die neue Wirklichkeit entschieden beim Namen nennen würden, müßte ihnen schwindlig werden. Sie müßten anerkennen, dass es keine Vollbeschäftigung mehr geben wird. Dauerhafte Arbeitslosigkeit in einem mit vermehrter Ungleichheit – damit geraten die Gewerkschaften in eine praktisch ebenso wie moralisch unhaltbare Position. Wenn sie nur die Interessen der arbeitnehmenden Mehrheitsmittelklasse im abgeschirmten ersten Arbeitsmarkt vertreten können, sind sie bald in der moralischen Minderheit. Sie müssen, an den Mast der Tarifautonomie gefesselt, mit den Arbeitgebern in einem Boot bleiben. Und verstricken sich dabei nur noch in Lebenslügen. Denn das Tarifsystem hält ja schon heute nicht mehr die integrierte Erwerbsbevölkerung zusammen, überall sind Löcher und Risse zu sehen. Doch wenn die Gewerkschaften aus dem Tarifsystem ausbrächen, dann würden ihnen ihre Mitglieder davonlaufen. So oder so schrumpft der Aktionsraum der Gewerkschaften – und damit schrumpft auch ihre Kampfkraft.

Claus Koch, taz am 25. 10. 1996