Leben ohne Lebenskraft

MATT Plötzlich ist alle Energie weg: Das Chronische Erschöpfungssyndrom ist eine rätselhafte Erkrankung. Ursache unbekannt, Heilung nicht in Sicht

Krankheit: Das Chronische Erschöpfungssyndrom (CFS) geht mit lähmender Kraftlosigkeit und Erschöpfung einher, die schon mindestens sechs Monate anhält. Hinzu kommen Symptome wie Muskel- und Gelenkschmerzen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Kopf- und Halsschmerzen.

Ursachen: Die deutschen Diagnostik-Leitlinien definieren CFS immer noch als psychiatrische Krankheit. Internationale Forscher ordnen CFS dagegen als organische Krankheit ein. Anders als Burn-out und Depressionen, die gut behandelbar sind, ist CFS wahrscheinlich auf eine dauerhafte Aktivierung oder Störung des Immunsystems zurückzuführen. Als Auslöser gelten Virusinfektionen, Umweltgifte oder Stresssituationen.

■ Selbsthilfegruppen: Betroffene in Deutschland berichten von mehrjährigen Odysseen von Arzt zu Arzt. Sie haben sich unter anderem zum Patientenverband Fatigatio zusammengeschlossen. Info: www.fatigatio.de

VON FABIAN REINBOLD

Es war ein Tag im Spätsommer vor fünf Jahren, als plötzlich das vorbei war, was Nicole Krüger „mein schönes Leben“ nennt. Krüger war um neun Uhr in die Sparkasse gekommen, um Kunden über Geldanlagen zu beraten. Alles wie immer eigentlich. Als sie noch ein paar Unterlagen aus ihrem Büro holte, war sie auf einmal völlig außer Atem. Im Beratungsgespräch strengte sie jeder Satz an. Klar, das schwüle Wetter, dachte sie.

Am Abend bekam sie Schüttelfrost und Fieberschübe. Eine Grippe, dachte Krüger jetzt. Aber dann kamen die Muskelkrämpfe in den Beinen, den Armen, auch im Mund hinzu, und als sie sich bückte, konnte sie nicht mehr aufstehen. „Meine ganze Kraft ist aus dem Körper geflossen“, sagt Krüger. Seit diesem Tag ist in ihrem Leben nichts mehr so, wie es einmal war. Sie kann nicht mehr arbeiten oder Sport treiben, nicht einmal eine Stunde spazieren gehen. Krüger, 39 Jahre alt, verbringt den Großteil des Tages im Bett. Seit fünf Jahren leidet sie am Chronischen Erschöpfungssyndrom.

Erschöpfung klingt zu harmlos. Für Betroffene ist die Erkrankung dramatisch und für Mediziner rätselhaft: Die genauen Ursachen sind unklar, eine Therapie ist bislang nicht gefunden, der Verlauf unterscheidet sich von Fall zu Fall.

Erschöpfung

Es ist noch nicht einmal klar, wie viele Menschen unter CFS, dem Chronic Fatigue Syndrome, leiden. Gesundheitsbehörden in den USA rechnen mit 0,2 bis 0,5 Prozent der Bevölkerung. Übertragen auf Deutschland sind das 160.000 bis 400.000 Kranke. Junge und Alte sind betroffen, Künstler wie Pianist Keith Jarrett und Berufsfußballer wie Olaf Bodden, der ehemalige Stürmer von 1860 München.

Mal müde sein, sich öfter etwas schlapp fühlen – damit hat CFS nichts zu tun. Es geht um ein Erschöpfungsgefühl, das sich auch durch Erholung nicht bessert. Es geht um lähmende Kraftlosigkeit, die länger als sechs Monate anhält, und die von Symptomen wie Muskel- und Kopfschmerzen oder extremer Lichtempfindlichkeit begleitet wird. Wenn die Erschöpfung durch keine andere Erkrankung wie Depressionen und Multiple Sklerose erklärt werden kann, können Betroffene an dem Chronischen Erschöpfungssyndrom leiden – doch das wissen hierzulande nur wenige Ärzte.

„Vor allem in Deutschland ist die Krankheit noch wenig bekannt“, sagt Carmen Scheibenbogen. Die Immunologin von der Berliner Charité leitet das einzige Forschungsprojekt an einer deutschen Universität zu CFS. „Chronische Erschöpfung ist ein eigenes organisches Krankheitsbild“, ist sie sich sicher.

Doch während in den USA und Kanada CFS genau als das anerkannt wird, zweifeln viele Ärzte in Deutschland daran. Sie halten es für Einbildung. Chronisch Erschöpfte werden als depressiv abgestempelt und dann falsch behandelt. Mit fatalen Folgen: Während etwa Bewegung bei Depressionen hilft, schadet sie CFS-Patienten. Die ohnehin geringen Kraftreserven sind noch schneller aufgebraucht.

Nachdem Nicole Krüger damals vor fünf Jahren erkrankt war, brauchte sie ein halbes Jahr, bis sie wieder um den Block gehen konnte. Ihre Schritte waren kurz, sie torkelte, es war, als ob sie ein zweites Mal laufen lernte. Viel mehr geht bis heute nicht.

Chronisch Erschöpfte werden als depressiv abgestempelt und dann falsch behandelt

„Ich hatte einmal ein schönes Leben“, sagt Krüger. In diesem Leben war sie Vermögensberaterin, Sportschützin, Wettkämpferin. Sie fuhr Inlineskates, ging regelmäßig ins Fitnessstudio. Heute muss sie sich selbst nach der Morgendusche ausruhen.

Anstrengung

Was früher selbstverständlich war, ist heute eine gewaltige Anstrengung. Ihre Muskeln schmerzen ständig, sie verkraftet keine lauten Geräusche. Nicht nur ihr Körper, auch ihr Leben ist wie gelähmt.

Die meisten internationalen Forscher gehen davon aus, dass eine Virusinfektion die Dauererschöpfung auslöst. Unklar ist jedoch, welche Erreger das sind. Carmen Scheibenbogen untersucht an der Charité den Zusammenhang zwischen CFS und dem Epstein-Baar-Virus, das das Pfeiffersche Drüsenfieber auslösen kann. Auch Nicole Krüger hatte vor fünf Jahren Pfeiffersches Drüsenfieber bekommen, und ihre Laborwerte zeigen bis heute hohe Entzündungs- und EBV-Werte. Sie hat sich offenbar nie von der Infektion erholt.

Doch ist auch Scheibenbogen nicht klar, warum bei CFS-Patienten das Immunsystem so gestört und dauerhaft geschwächt reagiert.

Von außen sieht man chronisch Erschöpften nichts an. Für die Betroffenen heißt das, ständig um Anerkennung ihres Leidens zu kämpfen. Bei Freunden und Familie, bei Krankenkasse und Rentenversicherung. Für Krüger war der Kampf um die Rente der Tiefpunkt. Der Gutachter der Rentenversicherung habe ihr gesagt, sie bilde sich die Krankheit nur ein. Für Krüger ein Schlag ins Gesicht.

Krankheit

Der Wunsch: taz-Leserin Susanne Degener mailte uns: „Da ich gerade eine zwar persönlich motivierte, aber gesundheitspolitisch notwendige Aktion starte, würde ich diese auch gern journalistisch begleitet sehen. […] Viele CFS-Patienten werden psychiatrisiert, häufig falsch behandelt.“

Der Weg: Haben Sie einen Themenvorschlag? Melden Sie sich unter open@taz.de oder postalisch: die tageszeitung, Sebastian Heiser, Rudi-Dutschke-Straße 23, 10969 Berlin

Sie hatte sich die ganzen Jahre angestrengt. Hatte gekämpft, wieder versucht, stundenweise zu arbeiten, sich durch eine Reha mit Aquajogging und Gymnastik gequält – und damit nur alles schlimmer gemacht.

Vielleicht war dies die schmerzhafteste Erkenntnis für die Powerfrau: Dass bei CFS Anstrengung nicht hilft, sondern schadet.

Die Rente hat sie nach jahrelangem Kampf und vielen Einsprüchen bewilligt bekommen.

Lange hatte sie sich gewünscht, doch eine andere Krankheit zu haben. Eine, die man heilen und besiegen kann. Jetzt, nach fünf langen Jahren, hat Nicole Krüger die Erkrankung CFS akzeptiert. Sie sagt, sie bleibe optimistisch. Sie hofft darauf, dass die Forschung in Amerika einen Durchbruch erzielt. Darauf, dass sie wieder arbeiten, eines Tages vielleicht sogar Sport machen kann. Nicole Krüger will ihr Leben zurück.