Polizei kriegt keine Suppe

GLEISBLOCKADE 20 Stunden lang blockieren die Demonstranten gut organisiert die Castorschienen, während die Polizei mit Frust und Überlastung kämpft

„Wer sich nicht wehrt, wird nur weggetragen“

ANSAGE DES EINSATZLEITERS

AUS HARLINGEN MALTE KREUTZFELDT
UND MARTIN KAUL

Die Polizei hat die Kontrolle verloren. Das zeigt sich nicht nur in Harlingen, wo in der Nacht von Sonntag auf Montag die größte Schienenblockade in der Geschichte des Wendlands läuft. Eine Schlüsselszene spielt sich elf Kilometer entfernt ab. Am Kreisverkehr westlich von Dannenberg, dort, wo sich die zentralen Kreisstraßen 216 und 248 kreuzen, haben Bauern mit Dutzenden Treckern eine schmale Passierstelle eingerichtet: Hier kontrollieren sie den Zugangsverkehr in der Region. „Klar darfst du durch“, ruft ein Landwirt einem Autofahrer zu. „Nur keine Polizisten!“

Bei Kilometer 188 auf der Schienenstrecke von Lüneburg nach Dannenberg bekommen die Einsatzkräfte die Folgen dieser Aktion zu spüren. Es ist Montag früh, kurz nach Mitternacht. Die Temperatur ist in der sternklaren Nacht unter den Gefrierpunkt gefallen. Seit Mittag sitzen hier mehrere tausend Menschen auf den Schienen. Die Polizei ist machtlos.

Oberhalb der Schienen stehen einige Beamte und sehen tatenlos zu, seit Stunden schon. „Gegen das hier kommt man einfach nicht an“, sagt einer der jungen Männer in Uniform. Nach über zwanzig Stunden Dauereinsatz verlassen ihn seine Kräfte, doch ein Ende ist nicht absehbar. Weil die Zufahrtswege blockiert sind, kommt die Ablösung nicht durch. Auch die Verpflegung der Polizei trifft nur schleppend ein. „Wer sich nicht selbst versorgt hat, hat schlechte Karten“, sagt der Polizist und deutet auf einen Vorrat an Schokoriegeln in der Tasche seiner Uniform.

Solche Probleme haben die Aktivisten nicht. Steffi, Markus und Ellen sitzen, in Kälteschutzdecken gehüllt, auf Strohsäcken. Sie sind seit elf Uhr morgens hier. Gerade wird wieder eine Kiste mit Essen durchgereicht, Salamibrote. „Ich kann nicht mehr“, sagt Markus. „Wir haben den ganzen Tag nur gegessen.“ Tatsächlich funktioniert die Logistik der Sitzblockade perfekt: Schon bald nach Beginn wird das erste Essen in großen Töpfen aus dem Camp im nahen Hitzacker herbeigeschafft. Lauchsuppe, wahlweise vegan oder mit Speck.

Als die Zahl der Blockierer am Nachmittag auf bis zu 5.000 anwächst, werden Decken und Lebensmittel kurzzeitig knapp. Um 22 Uhr wird per Internet zu Spenden aufgerufen: „Alles, was leicht genug ist, um über eine Polizeikette geworfen zu werden, ist besonders willkommen.“ Schon eine Stunde später wird Nachschub mit mehreren Autos bis kurz vor die Gleise gebracht – trotz vieler Polizeisperren. „Wir kennen uns hier eben aus“, sagt einer der Fahrer trocken.

Zwei Sambabands und ein Musikwagen sorgen derweil für Unterhaltung, viele kleine Lagerfeuer neben den Schienen für Wärme. Als gegen Mitternacht die Nachricht die Runde macht, dass der Castor im zwanzig Kilometer entfernten Dahlenburg mit Zäunen gesichert wird, damit er dort über Nacht bleiben kann, brandet Jubel auf. Viele legen sich im Gleisbett schlafen.

Doch die Nachtruhe währt nicht lange. Um ein Uhr nachts – nach über zwölfstündiger Blockade – fühlt sich die Polizei schließlich doch dazu in der Lage, die Blockade zu räumen. Die Einsatzleitung sagt nach Gesprächen mit den Organisatoren zu, dabei auf Gewalt zu verzichten: „Wer sich nicht wehrt, wird nur weggetragen.“ Doch dies Versprechen hat der Einsatzleiter vor Ort offenbar ohne seine Untergebenen gemacht: Als die Räumung um Viertel vor zwei in der Nacht beginnt, haben viele – nach mittlerweile 30 Stunden im Einsatz – weder Kraft noch Lust, die Blockierer weit zu tragen.

Die ersten 20 Meter, wo die Kameras sich tummeln, wird friedlich getragen. Dann fordern die Beamten zum Gehen auf. Teils freundlich („Das ist doch für uns alle angenehmer“), teils unterschwellig drohend: „Ich bin so müde, ich könnte Sie sonst fallen lassen.“ Wer den Weg bis zur mehrere hundert Meter entfernten Gefangenensammelstelle dennoch nicht laufen will, muss mit Schmerzen rechnen: mit umgeknickten Armen, mit Griffen ins Gesicht oder damit, über den Schotter geschleift zu werden. Die meisten beugen sich und gehen freiwillig mit. Dennoch ist die Räumung erst morgens um sieben Uhr beendet.

Um zu verhindern, dass die Blockierer an anderer Stelle wieder auf die Gleise gehen, werden knapp tausend von ihnen in ein Freiluftgefängnis gesperrt. Sie müssen in einem Ring aus Polizeiautos ausharren, bis der Castor morgens um 9.01 Uhr an ihnen vorbeifährt. Weil die Insassen trotz stundenlanger Ingewahrsamnahme keinem Richter vorgeführt werden, sprechen Anwälte der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg von „organisiertem Rechtsbruch“. Im Polizeikessel bekommen auch die Blockierer Versorgungsengpässe zu spüren: Decken stellt die Polizei zur Verfügung, Wasser zunächst nicht. Auch der Polizeitransporter mit Wasser war an der Bauernsperre nicht durchgekommen.