Achse des Mittelalter – Christoph Wagner
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Alles Alte ist auch neu

Der japanische Experimentalmusiker Keiji Haino zählt sie zu seinen Haupteinflüssen. Das Studio der frühen Musik habe ihm die Welt der mittelalterlichen Bordunklänge erschlossen, die so wichtig für seine „Drone“-Musik wurden. Die 1962 von Thomas Binkley gegründete Gruppe hat nicht nur Haino die Ohren für die Klangwelt des Mittelalters geöffnet, sondern auch mit zahlreichen Schallplatten der Öffentlichkeit bestimmte Aspekte der Musik zwischen 1200 und 1600 nahe gebracht. Dabei wurden Fragen der Interpretation aufgeworfen, die heute noch Relevanz in der Debatte um historische Authentizität besitzen. Alles war damals neu. Um Stücke ausfindig zu machen, musste man in Archiven wühlen und die Instrumente nach Bildvorlagen spezialanfertigen lassen.

Bei der Interpretation mittelalterlicher Musik verfolgte „das Studio“ einen Ansatz, der von der Kenntnis volksmusikalischer und außereuropäischer Traditionen informiert war. Man studierte etwa die Präsentation monofoner Lieder in arabischen Ländern, wo einstimmige Musik schon seit Jahrhunderten vorherrschend ist. Die Frage lautete: Wie macht man aus einer kurzen überlieferten Melodie ein Stück von einer halben Stunde Länge? Die Stücke wurden mit Vor- und Nachspiel umrahmt, sowie mit Improvisationen garniert. Eine Auswahl der besten Einspielungen dieser Uravantgardisten der „Early Music“ sind auf einer CD-Box enthalten, die nichts an sprühender Musikalität eingebüßt hat.

Studio der Frühen Musik: „Musik des Mittelalters“ (5 CDs), Virgin Classics

Nachgebautes Mittelalter

Der Impuls wirkte weiter. Nach der Auflösung des Studios der frühen Musik 1977 nahmen jüngere Musiker die Anregungen auf, wie Stevie Wishart mit der Gruppe Sinfonye. Offenheit und Fantasie waren entscheidend bei der Gestaltung und Ausformung der Lieder weiblicher Troubadoure und höfischer Damen, die auf „Bella Domna“ enthalten sind. Der australischen Drehleier- und Fiedelspielerin kamen dabei Erfahrungen zugute, die sie im Bereich der experimentellen Musik gesammelt hatte. So besitzen ihre Interpretationen mittelalterlicher Melodien nichts von den Verkrampfungen, die damals durch den Disput über die „richtige“ historische Aufführungspraxis um sich griffen.

Vor allem die spanische Musik des Mittelalters mit ihren maurischen Einflüssen faszinierte. Sie kommt in einer Handschrift aus Galicien aus dem 13. Jahrhundert zum Tragen, den Cantigas de Amigo – den Liedern für den Geliebten. Sie waren erst 1914 auf einer in einem Bucheinband eingelegten Pergamentseite entdeckt worden. Ausschweifende Ausflüge auf Drehleier, Fiedel und Harfe schaffen weite Spannungsbögen. Sie fügen der expressiven Vokalstimme von Mara Kiek interessante Klangfarben bei, umranken und kontrastieren sie, um die Textaussage zu illustrieren. Da werden Schleiftöne in die Phrasierung einbezogen, wie sie in volksmusikalischen Spielweisen gang und gäbe sind, während eine nordafrikanische Rahmentrommel eine klare rhythmische Linie vorgibt.

Stevie Wishart Sinfonye: „Bella Domna – The Medieval Woman“, Hyperion

Improvisierte Renaissance

Die Praxis der Improvisation wurde in der Renaissance und im Barock weiter verfeinert. Händel und Bach galten als virtuose Improvisationen, und selbst Beethoven hat sich noch mit Rivalen im spontanen Pianospiel duelliert. Im Unterschied zur einstimmigen Musik des Mittelalters wurde in der Renaissance nicht nur eine vorgegebene Melodie variiert, sondern über Akkordfolgen „fantasiert“. Die Grundform lieferte in Spanien und Italien der populäre Tanz „La Folia“, dessen harmonische Progressionen zum beliebten Raster wurden, ähnlich dem Bluesschema heute. Es bot Virtuosen der Viola, Gitarre oder Harfe die Möglichkeit, ihre kreativen Fähigkeiten leuchten zu lassen, ja sich in instrumentalen Ausschweifungen in Ekstase zu spielen.

Mit seinem Ensemble Teatro Lirico erkundet der amerikanische Gitarrist Stephen Stubbs seit längerem die Kunst der Improvisation in Renaissance und Frühbarock. Mit einer Sonata „Follia“ von Corelli um 1700 hebt das Album an, über deren Tabulaturen dann die Solisten ausgiebig fabulieren. Später bieten niedergeschriebene Folia-Variationen aus einem spanischen Manuskript von 1677 weitere Möglichkeiten, „die Saiten in voller Harmonie schwingen zu lassen“. Stubbs und seine MitmusikerInnen erweisen sich als derartig kompetente Improvisatoren, dass der Unterschied zwischen komponierten und spontan erfundenen Passagen zu verschwimmen beginnt.

Stephen Stubbs: „Teatro Lirico“, ECM