Das Wahnsinns-Ereignis ist Geschichte

25 JAHRE MAUERFALL Das Festprogramm zum Jubiläum ist dünn. Ein Vierteljahrhundert nach 1989 stellt sich deshalb die Frage, ob sich die Kräfte zur Erinnerung an den 9. November schon erschöpft haben

„Die Menschen, die auf beiden Seiten der Mauer lebten, stehen im Mittelpunkt des Vermittlungsprozesses“

AXEL KLAUSMEIER, GEDENKSTÄTTE BERNAUER STRASSE

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

Es gibt Stimmen, die fürchten, dass die diesjährige Rückschau auf den 25. Jahrestag des Mauerfalls danebengeht: Als wäre die Berliner Erinnerungskultur in Gefahr, rief der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit Ende März, gut sieben Monate vor dem Gedenktag, den Bund und die Kanzlerin auf, sich endlich für das Jubiläum am 9. November 2014 zu engagieren. Konkrete Planungen, Einladungen, prominente Namen fehlten, große Events ebenfalls – ein „Unding“, bildet doch das Andenken an den Mauerfall eine „wichtige nationale Aufgabe“, mahnte der Regierende. Einerseits.

Andererseits verschwieg Wowereit, dass die Stadt bis auf eine Lichtinstallation aus illuminierten Ballons, die den Verlauf der Mauer auf einer Länge von rund zwölf Kilometern nachbilden sollen, auch wenig in der Hinterhand hat. Ein „Themenjahr“ zum Mauerjubiläum, wie noch 2009, gibt es nicht. Neue Gedenkstandorte, Veranstaltungsreihen oder spektakuläre Ausstellungen zur friedlichen Revolution stehen 2014 nicht im Mauerfall-Programm, oder sie sind von marginaler Bedeutung.

Immerhin: Das Dokumentationszentrum an der Bernauer Straße wird umgebaut, die Mauergedenkstätte mit einer breiteren Sicht auf die Historie gestaltet. Dazu kommt ein Patchwork aus Vorträgen, Diskussionen und Ortsbegehungen. Als Initiatorin mit dabei ist passenderweise die Robert-Havemann-Gesellschaft, die unter anderem das Archiv der DDR-Opposition verwaltet. Aber das war’s dann auch schon.

Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und dem Ende des Kalten Krieges stellt sich die provozierende Frage, ob die konzeptionellen, emotionalen und vitalen Kräfte zur institutionalisierten Erinnerung an den Gedenktag ermüdet sind, sich erschöpft haben. Oder gehen diese Kräfte nur alternative Wege, wie Martin Sabrow, Direktor am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF), vermutet?

Die Mauer ist Stückwerk

Der Grund für die Frage liegt auf der Hand. Im Gedenkkalender der Stadt hat die Mauer heute ihre Sonderrolle als Berliner Unikum, als „Wahnsinns-Ereignis“, zwar nicht verloren, aber eingebüßt. Die Rezeption des Mauerfalls ist im Alltag der Gedenkkultur zwischen Mahnmalen, geschichtsträchtigen Orten und Denkmälern angekommen. Auch starke singuläre Ereignisse ordneten sich mit der Zeit in den Katalog der örtlichen „Geschichtsbilder“ ein, wie der Historiker Michael Stürmer diese Nivellierung einmal bezeichnet hat. Der Mauerfall 1989 steht 25 Jahre später in einer solchen Reihe – gemeinsam mit den Jahrestagen zum NS-Terror, Widerstand und Krieg, zum Tag der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990, zum DDR-Volksaufstand 1953 oder zu jenem im März 1848.

Dass die Mauer im Gedächtnis der Stadt längst keine einzigartige, durchgängige Chiffre mehr darstellt, lässt sich nicht erst im Gedenkjahr 2014 visuell erleben. Ihr Verlauf ist zwar durch originale Reste, den Mauerweg oder die Metall- und Steinstreifen im Pflaster nachgezeichnet. Als breites Band im Stadtgrundriss, wie noch etwa bis 1995 existent, ist die einstige Sektorengrenze aber verschwunden. Sie ist Stückwerk, Rudiment. Neue Häuserblocks, Straßen, Plätze, Parks liegen über dem Band, kreuzen es, haben es unter sich begraben.

Die Berliner Mauergedenklandschaft gleicht heute einem Archipel: Mauerfragmente, Mauergedenkstätten und „niedrigschwelligere Mauerorte“, die sich aber umso singulärer und zum Teil greller aus dem einstigen Gesamtkomplex herausheben, perforieren den früheren Grenzverlauf. Dazu zählen das Brandenburger Tor, die Gedenkstätte Bernauer Straße mit kunstvollem Konzept, die bunte East Side Gallery, die Bornholmer Brücke, das Notaufnahmelager Marienfelde, die Mauerreste an der Niederkirchnerstraße, die Mauermuseen am Checkpoint Charlie et cetera mit jeweils eigener Positionierung und Dynamik in Sachen Vermittlungsaktivitäten.

Die Mauer, ihr Verlauf und selbst die Gedenkorte sind schon im Jahr 2014 längst dekonstruiert, sind Collage. Sie erinnern an die Grafiken der Künstlerin Katharina Meldner, die Berlin in ihren schwarzweißen „Stadtkarten“ in helle und dunkle Flächen zerstückelte. Doch nicht nur die Topografie des Gedenkens ist 25 Jahre nach dem Mauerfall fragmentiert. Auch die Inhalte und Programme der jeweiligen Gedenkinstitutionen werden immer differenzierter – und natürlich kommerzieller.

Statisch war das Gedenken an die Mauer allerdings nie. Axel Klausmeier, Direktor der Stiftung Gedenkstätte Bernauer Straße, erinnert an die vielen Facetten von Anfang an: In den ersten Jahren nach 1989 war die Stimmung in Berlin davon geprägt, das Symbol der Teilung aus dem Stadtbild zu eliminieren. „Später ging es um das Wie der historisch-politischen Vermittlung ihrer Bedeutung, um die Inszenierung beziehungsweise Präsentation der wenigen Mauerreste sowie um Fragen der Funktionsweise dieses tödlichen Bauwerks. Heute stehen die Menschen, die auf beiden Seiten der Mauer lebten, im Mittelpunkt des Vermittlungsprozesses.“

Europäische Aspekte

Aktuell, so Klausmeier, rückt neben dem Event Mauerfall „die Mauer im gesamtdeutschen und europäischen Aspekt“ in den Mittelpunkt der Rezeption. „Für das Gedenken stellt sich die Frage, welche Bedeutung sie im internationalen Kontext spielte“ und was sich im Schatten des Eisernen Vorhangs in beiden deutschen Staaten ereignete.

Wer das Thema Mauer im Jahr 2014 verstehen will, hat nach ihren politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ursachen und Wirkungen zu suchen, sagt Klausmeier zu Recht. Von zunehmendem Belang erscheint darum die Beschäftigung mit der DDR-Geschichte und der Beziehung zwischen Herrschaft und Alltag. Ein Vierteljahrhundert nach 1989 muss zudem ausgelotet werden, welchen Platz der ostdeutsche Staat in der deutschen Erinnerungskultur einnimmt. Und legitim ist ebenso, dass sich der Blick auf andere einst sozialistische Länder weitet und deren Erfahrungen mit repressiven Instrumenten im späten Sozialismus analysiert. Umgekehrt ist es an der Zeit, nicht weiter wilden Fluchtgeschichten auf den Grund zu gehen, sondern den Problemen der Integration ausgereister DDR-Bürger in die Bundesrepublik.

Man kann deshalb nicht – wie Klaus Wowereit befürchtet – von einer Gefahr für die Berliner Erinnerungskultur sprechen, nur weil kein Themenjahr auf dem Tisch liegt. Themen gibt es genug! Beklagenswert ist vielleicht, wenn die Erinnerungskultur zum reinen Erinnerungsrummel samt Geschichtsklitterung verkommt wie am Checkpoint Charlie oder an der East Side Gallery: Die Mauer ist dort nur noch Kulisse für jede Art von Mauerkommerz. Es ist wenig erstaunlich, dass dort der Erinnerungsboom die Größe eines „Tsunamis“ angenommen hat, wie Martin Sabrow vom ZFF meint.

Raus aus der Ideologiefalle

Viel erstaunlicher ist, dass die Stiftung Berliner Mauer jenseits dieser Touristenmeile im Dreieck Bernauer Straße, Marienfelde und Brandenburger Tor 2013 mehr als 850.000 Besucher zählte. Tendenz: steigend. Dort oder am Kreuz für die Mauertoten Peter Fechter und Chris Gueffroy, am Gedenkstein an der Bornholmer Brücke, wo in der Nacht zum 9. November die Grenze zuerst fiel, holt die historisch-politische Bildung sich ihr Recht zurück und navigiert die Rezipienten aus der Ideologiefalle heraus zu mehr Weitblick. Das tut der Erinnerung und der Feier des 25. Jahrestags des Mauerfalls nur gut.