Reise ins Licht

FOTOGRAFIE Das Verborgene Museum zeigt die erste Ausstellung der Schweizer Fotografin Henriette Grindat in Deutschland: Vom Surrealismus bis zu poetisch kühlen Kompositionen reichen die Arbeiten der Vielgereisten

Vielleicht dient der Mann am Strand nur als optischer Akzent, der die Komposition spannender macht

VON ACHIM DRUCKS

Eine exotische Schnecke? Ein Unterwasserwesen? Zuerst lässt sich das seltsame Objekt auf Henriette Grindats unbetitelter Fotografie kaum klassifizieren. Dann erkennt man, dass es sich um zwei abgetrennte Hahnenköpfe handelt. Ihre Augenhöhlen sind leer, die Schnäbel wie zu einem stummen Schrei geöffnet – dank weißer Fäden, die an ihnen ziehen. Die perfekt ausgeleuchtete Komposition entstand Ende der 1940er Jahre in Paris.

Unermüdlich hatte die 1923 geborene Schweizerin nach ihrer Fotografenausbildung in Ateliers und Dunkelkammern gearbeitet, um von Lausanne in das Epizentrum des Surrealismus umsiedeln zu können: in die Stadt ihrer Idole wie Brassaï oder Raoul Ubac, deren Arbeiten sie aus dem Avantgardemagazin Minotaure kannte. Und Grindat ist erfolgreich. Bereits 1949 hat sie in Paris ihre erste Galerieausstellung.

Die surrealen Studiofotografien bilden den Auftakt von Grindats deutschlandweit erster Ausstellung. Das Verborgene Museum zeigt rund 90 Schwarz-Weiß-Aufnahmen – alle von ihr selbst abgezogen. Schon die frühen Bilder belegen ein großes Gespür für die Wirkung von Licht und Schatten sowie für Strukturen – ein Thema, das ihre späteren Arbeiten dominieren wird. In Paris bewegt sich die junge Fotografin in Künstler- und Literatenkreisen. Hier lernt sie auch ihren späteren Mann Albert-Edgar Yersin kennen. Wie sie beschäftigt sich der Zeichner und Radierer mit Materialität und Texturen.

Langsam beginnen sich ihre Arbeiten vom Surrealismus zu emanzipieren. Grindat fängt an zu reisen und erkundet trotz ihrer Behinderung infolge einer Kinderlähmung immer wieder die Länder am Mittelmeer: Spanien, Italien, Algerien. Später dann auch Ägypten, Äthiopien und Somalia. Zunächst begeistert sie sich besonders für den dekorativen Verfall Venedigs: bröckelnde Fassaden, morbide Palazzi, das feucht-glänzende Pflaster leerer Gassen. Eine Aufnahme von gleißenden Lichtreflexen, die auf schwarzem Wasser zerfließen, wirkt wie ein abstraktes, fast psychedelisches Gemälde. Bewohner der Stadt kommen auf ihren Bildern nicht vor.

Tendenz zur Abstraktion

Grindat ging es nicht darum, Land und Leute möglichst malerisch in Szene zu setzen. Das konnte sie zwar auch, wie ihre Reisereportagen für Illustrierte beweisen. Diese dienten ihr aber vor allem zur Existenzsicherung. Wirklich interessiert hat sie sich vor allem für unterschiedliche Beschaffenheiten von Oberflächen. Sind ihre Venedigbilder häufig in ein vernebeltes Halbdunkel getaucht, werden ihre Bilder im Laufe der Jahre immer heller und klarer. Im ersten Ausstellungsraum künden fünf nebeneinander hängende Abzüge von dieser Reise ins Licht. Häufig ist der Bildausschnitt oder die Perspektive so gewählt, dass das Motiv nicht auf Anhieb zu erkennen ist, sich seine Proportionen nicht nachvollziehen lassen. Der im Bau befindliche Assuan-Staudamm erscheint als Gewirr aus Gittern und Gerüsten, ausgetrockneter, von Rissen durchzogener Boden mutiert zum Stoffmuster, feuchter Sand zu faltiger Haut.

Bei den Aufnahmen im zweiten Ausstellungsraum verstärkt sich diese Tendenz zur Abstraktion. Sie scheint nicht nur von der Subjektiven Fotografie beeinflusst, einer Bewegung, die sich Anfang der 1950er formierte und der es um die poetische Deutung der Wirklichkeit ging. Es lassen sich auch Parallelen zur bildenden Kunst feststellen. Mit den Malern und Grafikern des Informel teilt sie eine Vorliebe für zerklüftete, reliefartige Oberflächen und rhythmisch bewegte Hell-dunkel-Formen. Algen auf einem weißen Sandstrand erinnern an Pollocks Drip-Paintings.

Die poetischen und expressiven Momente dieser beiden Strömungen werden auf Grindats stärksten Aufnahmen allerdings auf eindringliche Weise heruntergekühlt. Natürlich kann man ihre Fotografien als bildnerische Umsetzung von Gefühlszuständen interpretieren. Vielleicht steht die einsame Figur eines Mannes am Strand für eine gewisse Verlorenheit. Vielleicht dient er aber auch nur als optischer Akzent, der die Komposition spannender macht.

Henriette Grindat starb 1984. Sie ist eine wirklich großartige Wiederentdeckung. Nicht nur weil sie bewiesen hat, dass selbst eine Fotografie von Flechten auf einem Kalkstein eine überaus faszinierende Angelegenheit sein kann.

■ Bis 30. Januar, Verborgenes Museum, Schlüterstraße 70, Do. bis Fr., 15–19 Uhr, Sa.–So, 12–16 Uhr