„Eltern verstecken ihre Sucht“

Nach dem Tod des zweijährigen Kevin in Bremen soll die Jugendhilfe auf den Prüfstand. Die Erziehungswissenschaftlerin Juleka Schulte-Ostermann hat für die Stadt Kiel einen Hilfeleitfaden für Suchtfamilien verfasst. Umgesetzt hat die Stadt noch nichts

Interview: Elke Spanner

Der zweijährige Kevin, dessen Leiche die Polizei vorige Woche in Bremen entdeckte, hat bei seinem drogensüchtigen Vater gelebt. Gilt Sucht der Eltern in der Jugendhilfe grundsätzlich als Risikofaktor?

Ja. Sucht ist laut der Weltgesundheitsorganisation eine der schwersten psychischen Krankheiten. Abhängige Eltern brauchen Unterstützung.

Muss man dabei nach Suchtmitteln unterscheiden, etwa nach Alkohol oder Heroin?

Bei illegalen Drogen ist das Tabu noch viel größer. Die Eltern verstecken ihre Sucht aus der Angst heraus, dass ihnen die Kinder sonst weggenommen werden. Alkoholabhängigkeit ist eine Krankheit, die mittlerweile konsensfähiger ist.

Wollen Schwerstabhängige, ihre Kinder überhaupt bei sich haben?

In der Fachambulanz Kiel wollte die überwiegende Anzahl der Eltern das. Manche erhoffen sich, über das Kind ihren Teufelskreis zu durchbrechen. Mit dem Kind bekommen sie eine Aufgabe. Und: Sie lieben ihre Kinder. Die Frage ist dann, ob sie den Alltag tatsächlich bewältigen.

Sind Kinder auch bei drogensüchtigen Eltern grundsätzlich am besten aufgehoben?

Ja. Wenn es sich „nur“ um Drogenabhängigkeit handelt, und nicht Gewalttätigkeit der Eltern oder Vergleichbares hinzukommt, wodurch von einer konkreten Kindeswohlgefährdung ausgegangen werden muss. Und wenn die Eltern im Methadonprogramm sind. Dann sagt auch die Psychologie, dass schlechte Eltern im Zweifelsfalle für das Kind besser sind als gar keine. Außerdem haben Kinder drogenabhängiger Eltern ebenso ein Recht auf Erziehung durch Mutter und Vater wie andere auch. Es gibt auch keine eindeutigen wissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse, die eine schlechtere Entwicklung der Kinder belegen könnten, die bei drogensüchtigen Eltern aufwachsen im Vergleich mit denen in Pflegefamilien. Der Punkt wird natürlich kontrovers diskutiert. Es ist für viele Menschen unvorstellbar, dass es für ein Kind besser sein kann, bei drogenabhängigen Eltern zu leben als in einer Pflegefamilie. Es ist schwer zu akzeptieren, weil es fern der eigenen Lebenswirklichkeit ist.

Also sollte man Kinder von Abhängigen nicht grundsätzlich aus der Familie nehmen?

Nein. So zu pauschalisieren wäre gefährlich. Natürlich: Wenn die Eltern nicht im Methadonprogramm sind, müssen die Kinder aus der Familie raus. Wenn Vater oder Mutter auf Straßenheroin oder ähnliches angewiesen sind, könnte man nicht verantworten, das Kind bei ihnen zu lassen.

Wenn das Kind in der Familie bleibt: Wie müsste die Betreuung im optimalen Fall laufen?

Ich würde empfehlen, die Mütter schon ab Bekanntwerden der Schwangerschaft mehrere Jahre zu betreuen. So soll es jetzt in Niedersachsen nach einem Vorbild aus den USA umgesetzt werden: Dort hat man festgestellt, dass die Entwicklung der Kinder stabiler verläuft, wenn die Familie mit Beginn der Schwangerschaft Unterstützung bekommt. Die Kinder sind in der Regel gesünder, erreichen höhere Schulabschlüsse, werden seltener kriminell. Die Mutter muss von vornherein signalisiert bekommen: Wir sind für dich da. Durch eine Familienhebamme kann auch die Angst genommen werden, die viele vor offiziellen Institutionen haben. Sie fürchten, dass ihnen das Kind weggenommen wird. Durch Hebammen hat man die Chance, die Verweigerungshaltung der Eltern zu durchbrechen.

Was unterscheidet die Familienhebammen von der üblichen Familienhilfe?

Die klassische Familienhilfe, die man für mehrere Monate bewilligt bekommt, reicht nicht aus. Ich habe mit einem Vater gesprochen, der drogenabhängig war und eine inzwischen 17-jährige Tochter hat. Er sagte, dass ein ganz großes Problem diese befristete Hilfe war. Jeder neue Antrag und jede neue Bewilligung bedeutet auch eine neue Bezugsperson. Das kann man mit Kindern nicht machen. Was auch fehlt, sind Einrichtungen, die Mutter und Kind zusammen aufnehmen.

Sie haben Ihren Hilfeleitfaden für Kiel im November veröffentlicht. Was hat sich seither getan?

Zwischen der Fachambulanz Kiel und dem Sozialministerium wurden erste Gespräche geführt über die Initiierung wirksamer ambulanter Hilfen. Umgesetzt hat die Stadt Kiel meines Wissens von den Vorschlägen aus dem Leitfaden bisher nichts.