Bremer Selbstfindung

Jahrzehnte hat Bremen damit verplempert, ein ganz normales Bundesland werden zu wollen. Vergebens! Erst als der Zwei-Städte-Staat sich auf seine Kernkompetenzen besann, wurde alles gut

„Prost!“ Chefredakteur h. c. und i. R. Klaus Wolschner hebt sein Glas, drei steppende Jungredakteurinnen winken ihm kreischend zu, der greise Ehrenbürgermeister Henning Scherf ballt die Faust zum Gruß und kippt einen doppelten Rum: „Die taz bremen wird 40, wer hätte das zur Zwanzigjahrfeier im Jahre 2006, die Älteren unter uns werden sich erinnern, für möglich gehalten!“, gröhlt Jochen Grabler ins Mikrophon.

Selbständigkeit in Gefahr

Grabler, vormals taz bremen und Radio Bremen, heute Stadionsprecher Alte Herren, blinzelt ins Publikum, das sich im Rathaussaal drängt. „Was das größere Wunder ist: Dass es immer noch eine selbständige taz bremen gibt oder ein selbständiges Bundesland Bremen, darüber wird die Geschichtsschreibung richten“, wirft eine fesche Mittsiebzigerin ein, die sich soeben, mit ihrer Handtasche um sich schlagend, in den Saal drängt. Es ist Susanne Paas, die seinerzeit als Referentin im Umweltressort bundesweit für Schlagzeilen sorgte, weil sie durchsetzte, dass jeder Behördenmitarbeiter auf eigene Verantwortung Bleistifte und Radiergummis einkaufen darf.

In diesem Moment tritt der Mann ans Mikrofon, der Henning Scherfs Rollstuhl schiebt. „Der Titel meines Festvortrags lautet: Bremen nervt wieder. Ein Blatt und seine Stadt.“ Klaus Schloesser, vor drei Jahrzehnten Scherfs Sprecher, schenkt der Festgemeinde ein verrutschtes Lächeln und entfaltet ein Manuskript. Die ARD unterbricht eine Dauerwerbesendung und schaltet live nach Bremen. Bremen, erinnert der Redner, stand vor 20 Jahren am Abgrund. Der Schuldendienst fraß die Staatseinnahmen auf. Eine große Koalition hatte jede politische Debatte in Bremen abgetötet. Politik war zur Bestandswahrung und zum Katastrophenmanagement verkommen. Die Bremen durchfütternden reichen Bundesländer forderten damals ultimativ einen Nordstaat mit der Hauptstadt Hamburg. Die taz titelte 2007, nachdem das Bundesverfassungsgericht eine Klage des Bundeslandes auf großzügigere Alimentierung abgewiesen hatte: „Bremen – as dead as a dodo!“

Desaster der Anbiederung

Die Bremer Wahrheitskommission, die damals auf Initiative der taz ins Leben gerufen wurde, ließ, so der Festredner, „kein Auge trocken“. Ihre Mitglieder stammten aus der Gründergeneration der Uni, waren Künstler und Funktionäre, auch das einzige Mitglied des Arbeitskreises „Lob der Faulheit“, Eberhard B. Plümpe, war dabei. Die Ausgangsthese lautete: Der Kurs der Anbiederung ans System hat Bremen ins Desaster gestürzt. Schloesser erinnert sich: „Alle Versuche, zur Event- und Gedönsmetropole zu werden, wir denken an eine Musicalmetropole oder Spacemetropole, blieben erfolglos.“ Mit erbärmlichen Sprüchen wie „Bremen neu erleben“ und später „Bremen erleben“ sei das Stadtmarketing gescheitert, spätestens, als die Medien das Wortspiel „Bremen überleben“ entdeckten. Kurzfristig schien es, Bremen mit dem Wahrzeichen Universum ließe sich als Metropole des Wissens vermarkten, doch der Wissens-Trend war kurzlebig. Nachdem alle neuen Wissensmagazine und TV-Wissenssendungen eingestellt waren, entpuppte sich auch dieses Image als untauglich.

Zum Gespött wurde das darbende Bundesland, als es die Parole „Aus Wissen wird Wirtschaft“ ausgab. Im Stern erschien eine Zeichnung des ehemaligen taz-Karikaturisten Til Mette, die Bremer Lokalfürsten angeheitert in einer Kneipe zeigte. Als dann auch noch ToyotaChrysler kurzfristig das Bremer Mercedeswerk schloss, wurde die letzte Illusion über den Nutzen des Kuschelns zwischen Politik, Wissenschaft und Kapital zerstört.

Von Nicaragua lernen

„Bremen war auf der Suche nach seiner Identität.“ so Klaus Schloesser. Er erinnert die Festgemeinde an den Chef der Wahrheitskommission, den Berliner Urbanisten Albrecht Göschel, der schon 2005 Bremen empfohlen hatte, sich um seine „Seele“ zu kümmern. „Eine große Bedeutung in diesem Zusammenhang hatte eine mehrmonatige Reise meines verehrten früheren Chefs Henning nach Nicaragua. Von dort kam er zurück in einem Che Guevara-T-Shirt – als glühender Sozialist. Und was uns damals fast noch mehr rührte, war die Tatsache, dass der bekennende Abstinenzler zum Rumtrinker geworden war.“ Die Seele Bremens, so erkannte die Wahrheitskommission in einer messerscharfen Analyse, verbarg sich in Bremens Fähigkeit, Neues und Unerhörtes, Verrücktes und Experimentelles auszuprobieren, zu testen, vorzuleben. Die wilden Theaterjahre in den 60-ern, die wild wuchernde Kunst im öffentlichen Raum in den 80ern waren Beispiele dafür, aber insbesondere die Universität als „Rote Kaderschmiede“. „Die These war, dass sich Deutschland und insbesondere die Nettozahler im Länderfinanzausgleich ein Bundesland Bremen in Zukunft nur leisten würden, wenn Bremen sich wieder als sozialer und politischer Vorreiter präsentieren konnte. Und sei es als böser Bube“, so Schloesser. Ein mutiger Schritt nach vorn war der Entschluss des Stadtmarketingchefs Klaus Sondergeld, das Land in der bundesweit beachteten Werbeoffensive „Bremen nervt“ vorzustellen. Kurz darauf übernahm die Uni das ehemalige Schimpfwort „Rote Kaderschmiede“ in ihren Briefkopf. In Bremen wurde daraufhin erstmals seit 20 Jahren wieder die Frage diskutiert, ob der Kapitalismus wirklich die höchste Entwicklungsstufe menschlichen Wirkens und Wirtschaftens sei. „Und 2010“, endet Schloesser seinen Vortrag, „nahm in Bremen wieder ein Seminar ‚Marx lesen‘ seine Arbeit auf.“

Honorar auf FAZ-Niveau

Standing Ovations für den Redner. Die Ehefrau des Ehrenbürgermeisters, Luise Scherf, intoniert auf dem Flügel „Comandante Che Guevara“. Ein älterer Herr, der pensionierte Geschäftsführer der taz-Gruppe Kalle Ruch, überreicht dem Ehrenchefredakteur Wolschner einen Strauß roter Nelken. Der letztlich erfolgreiche „Ruck durch Bremen“ hatte 2016 zu der strategischen Entscheidung geführt, die Bremer taz-Redaktion aus der taz-Nord wieder herauszulösen und zu einem eigenständigen Gruppenmitglied zu machen. Ruch, mit Tränen der Rührung in den Augen, wendet sich kurz an die feiernde Gesellschaft: „Unser Geburtstagsgeschenk an die taz bremen ist die Anhebung des Zeilenhonorars auf das Niveau der FAZ!“

Nicht enden wollender Jubel, ein rotes Fahnenmeer. Unzählige gereckte Fäuste.

Hinweis: Burkhard Strassmann, schrieb bis 1999 vor allem für die taz bremen und NFM Nutzfahrzeugemarkt, heute hauptsächlich für die Zeit, nebensächlich für mare, Geo Saison und andere