Der Mann auf der Straße

Jungfernstieg, Europapassage, Hafencity – Hamburgs Innenstadt putzt sich für die zahlungskräftige Kundschaft. Obdachlose sind dabei im Weg. Der Polizist Peter Stapelfeld versucht zu vermitteln

von FRIEDERIKE GRÄFF

Wenn Peter Stapelfeldt die Runde durch seinen Polizeibezirk macht, bringt er die Liste in seinem Kopf auf den neuesten Stand. „Nehm’ ich noch mal die Personalien auf?“, fragt er sich. „Dann weiß ich, wen ich verständige, wenn er stirbt.“ Die Leute, deren Personalien er notiert, werden nicht sehr alt. Im Durchschnitt 48 Jahre. Man lebt nicht lange auf der Straße.

Die Familie holt das Geld

„Das ist Schuppen-Peter“, sagt Peter Stapelfeldt und deutet auf einen Mann am Boden. „Der ist am Ende.“ Schuppen-Peter isst Erdbeeren aus einer Plastikschale, neben ihm spielt ein Radio Schlagermusik. Die Haut an seinen Händen hängt in kleinen Fetzen. „Manchmal sitzt er nur so da und das Blut läuft von seinen Händen herab“, sagt Stapelfeldt. „Das Witzige ist, er ist verheiratet. Es ist eine dolle Familie.“ Die Frau und der Sohn der dollen Familie kommen regelmäßig und holen Geld von Schuppen-Peter ab. Der geht kaputt, sagt Stapelfeldt, wenn er nicht täglich seine drei Flaschen Korn bekommt.

„Bisschen zu viel Alkohol“

„Warst du beim Arzt?“, fragt Stapelfeldt. „Noch nicht“, sagt Schuppen-Peter und stellt das Radio aus. „Warum überlegst du so lange?“, fragt Stapelfeldt. „Ich brauche Zeit“, sagt Schuppen-Peter. „Der Punkt ist bei mir, dass ich ein bisschen zu viel Alkohol trinke.“ Und dann sagt er noch, dass er gehört habe, dass Stapelfeldt bald pensioniert werde. „Ich wünsche eine gute Rente.“

Als Peter Stapelfeldt 1970 bei der Polizei anfing, guckte er sich bei den dienstälteren Kollegen ab, wie man mit Obdachlosen umging: „Hau’ ab, du Penner“, sagten sie. „Wenn ich einem Obdachlosen in den Arsch trete, wo will er sich denn beschweren?“, sagt Stapelfeldt. Als er vor zwölf Jahren zum Bürgernahen Beamten ernannt wurde, häuften sich gerade die Anzeigen im Revier. Die Geschäftsleute versuchten, die Konflikte mit den rund 30 Obdachlosen in der Innenstadt selbst zu regeln – oder sie riefen den Polizei-Notruf. „Es gab Stress und Ärger“, sagt Stapelfeldt. „Wenn jemand 30 Jahre auf der Platte schläft, kann ich nicht sagen: ,Würden Sie so freundlich sein, den Platz zu räumen.‘“ Aber es brächte auch nicht viel, wenn er es mit Anschreien versuchte.

Wo es schön warm ist

Peter Stapelfeldt brauchte zwei Jahre, um mit den Obdachlosen rund um die Mönckebergstraße vertraut zu werden. Er ging immer wieder vorbei, grüßte, und sie grüßten notgedrungen zurück. Er hat zusammen mit dem Pfarrer der St. Petri-Kirche einen runden Tisch gegründet, damit die Geschäftsleute, die Hilfsorganisationen und Sozialarbeiter gemeinsam nach Lösungen suchen. Peter Stapelfeldt findet, dass die Sozialarbeiter sich zu oft mit Gesprächskreisen aufhalten. „Ein Polizist sieht die Lage und muss sie bereinigen“, sagt er.

Die Lage war die, dass die Obdachlosen auf den Weihnachtsmarkt kamen, Leuten den Glühwein wegtranken oder an die Stände pinkelten. „Klar, wollen sie dort sein, wo es schön warm ist“, sagt Stapelfeldt. „Aber ich geh’ den anderen auch nicht auf den Keks.“ Also organisierte der runde Tisch eine Weihnachtsbude vor der St. Petri Kirche, einige Bürger brachten bunte Teller. Stapelfeldt ging zu den Obdachlosen und sagte: „Da müsst ihr hin. Schließlich kostet die Bude Geld und das Bier auf der Straße zu trinken, ist doch Scheiße.“

Vermutlich hat den Obdachlosen die Weihnachtsbude gefallen, aber die Geschichte mit dem Ausweis und die mit der Hochzeit wird ihnen mehr imponiert haben. Schließlich ging es da um sie selbst und nicht um den Frieden mit den Geschäftsleuten von der feinen Mönckebergstraße. „Unsere Gesellschaft ist ein bisschen versaut“, sagt Stapelfeldt zur Einleitung der Ausweis-Geschichte. Damals brauchte einer der Obdachlosen neue Papiere für die Sozialhilfe, doch auf dem Bezirksamt sagte die junge Frau: „Du stinkst, geh’ raus.“ „Der Mann kannte die Behörden nicht und war eingeschüchtert“, sagt Stapelfeldt. Deshalb rief er selbst an: „Ich kenne den“, sagte er. „Er kriegt den Ausweis, Schluss, Aus.“

Das Deprimierende der Stapelfeldt’schen Geschichten ist, dass sie alle nach dem gleichen Schema funktionieren: Die Obdachlosen können nicht durchsetzen, was ihnen zusteht, aber sobald der polterige Polizeibeamte nachhilft, arbeitet das System. Die Geschichten sind trotzdem schön, Stapelfeldt kann gut erzählen. Zu der von der Hochzeit gibt es sogar ein Zeitungsfoto, auf dem Braut und Bräutigam sich umarmen und hinter ihnen steht eine kleine Gruppe Männer. „Das ist Bayern-Peter“, sagt Stapelfeldt und tippt auf einen von ihnen. „Der war inzwischen in Therapie und hat seine Ärztin geheiratet.“ Und dann tippt er auf einen anderen: „Das ist Motte. Der hat nur noch einen Suppenzahn.“ Schuppen-Peter ist auch dabei. Er lacht und prostet in die Kamera.

Das Recht des Stärkeren

Gerd, den Bräutigam, kannte Stapelfeldt schon seit Jahrzehnten. Er trank viel und gelegentlich gab es Streit. „Spinnst du?“, war erst einmal alles, was Stapelfeldt einfiel, als Gerd zu ihm kam und sagte, dass er Stefanie heiraten wolle. Stefanie, die nie über den Entwicklungsstand eines Schulkindes hinauskommen wird, lebte damals seit drei Jahren mit ihm auf der Straße und er beschützte sie. „Sie wäre sonst Frischfleisch gewesen, herumgereicht worden und schließlich irgendwo in St. Georg auf dem Strich gelandet“, sagt Stapelfeldt. Er sagt, dass die Obdachlosen nicht kommunizierten, so wie die Leute mit Obdach es täten. Sondern dass das Recht des Stärkeren gelte. Der Polizist findet, dass das kein grundsätzlicher Unterschied ist. Die Gewalt setzt bei den Obdachlosen nur früher ein und sie ist für alle sichtbar.

Stapelfeldt hat die Genehmigung für die Hochzeitsfeier eingeholt, ein halbes Jahr später hat er eine Wohnung für sie besorgt, er hat Stefanies Mutter in einem Berliner Pflegeheim ausfindig gemacht, er hat beim Staatsanwalt Ratenzahlung durchgesetzt, als sie ohne Fahrschein erster Klasse zu Gerds Mutter fuhren und er hat Stefanie aus dem Untersuchungsgefängnis geholt, als sie die Ratenzahlung vergessen hatten. Nur einmal hat er „Nein“ gesagt. Als sie schwanger wurde, wollte sie, dass er Pate für das Kind würde. Stattdessen hat er eine Betreuerin vom Jugendamt organisiert.

Ehrlicher als die Banker

Irgendwann hat sich Stapelfeldts Verhältnis zu denen, die nie unten waren, geändert. Er hatte keine Lust mehr, sich das „Scheiß-Argument der Bürger“ anzuhören, dass die Obdachlosen nur mal arbeiten müssten. Wer würde sie denn nehmen? „Freddi, du kannst gleich mitkommen“, hat er zu einem Obdachlosen gesagt, als ein Geschäftsmann wieder damit ankam. Aber der wollte Freddi doch lieber nicht mitnehmen.

„Ich will sie nicht unbedingt heiraten“, sagt Stapelfeldt. „Aber wenn man ehrlich mit ihnen umgeht, sind sie zum Teil ehrlicher als die Banker. Sie haben eben nur ein Gesicht und nicht drei.“

Sie werden immer jünger

Früher kannte er die ganze Szene, es war eine feste Gruppe, die so vertraut war, dass sie regelmäßig gemeinsam eine Reise nach Italien machten. Inzwischen sind einige weggegangen, einige gestorben, ein paar sind ins bürgerliche Leben zurückgekehrt. Die Neuen werden immer jünger. In ein paar Monaten geht Stapelfeldt in Pension und er fragt sich, was er erreicht hat mit seiner Arbeit. „Die Anzeigenlage geht gegen Null“, sagt er. Aber die Zahl der Obdachlosen ist unverändert geblieben. „Ich kann die Gesellschaft nicht ändern“, sagt er. Er kann ihnen keine Stelle verschaffen und die Jugendlichen, die nachts auf dem Heimweg mal eben einen Obdachlosen treten, erwischt er auch nicht immer. Aber er ist trotzdem zufrieden. „Was ich gemacht habe, war gut.“

Nur einer geht ihm nicht aus dem Kopf: Der Stinker. Ein Mann, der oft an der Würstchenbude steht, von Fliegen umschwärmt, weil er sich nicht mehr sauber hält. „Die Würde hat er verloren“, sagt Stapelfeldt. Er hat mit den Hilfsorganisationen gesprochen, aber die sagen, dass er keine Hilfe von ihnen wolle. Die Amtsärztin hat ihm gesagt, dass der Vormundschaftsrichter ihn nicht länger als sechs Monate einweisen würde. Man müsse zwischen Eigenverantwortung und Fremdgefährdung unterscheiden.

„Bei einem Hund käme umgehend der Struppiwagen und holte ihn. Aber die Gesellschaft lässt ihn einfach vergammeln“, sagt Stapelfeldt. „Irgendwann werde ich ihn tot aus der Hecke ziehen und dann werden alle sagen: Gott sei Dank. So ein Mann ist nicht mehr tragbar für den Einzelhandel.“