Der Nachwuchs zahlt die Zeche


AUS KAMP-LINTFORT ALEXANDER FLORIÉ

Die weiße Villa gegenüber dem Zechengebäude ist von Gerüsten umgeben, die Dachrinne muss neu gemacht werden. Die Baustelle ist Sinnbild für die Situation der Steinkohle in der Region. Nach genau hundert Jahren Bergbau machen sich die knapp 3.600 Kumpel der Zeche West in Kamp-Lintfort Sorgen um die Zukunft.

Roland Jonas ist seit 28 Jahren auf der Zeche. Der ehemalige Boxer („Gegen Sven Ottke hab ich als Amateur in Velbert ein Unentschieden gemacht“) hat als Aufsichtshauer angefangen. Später wechselte der 43-Jährige in den Betriebsrat und wurde Angestellter. „Ende der 70er Jahre war der Bergbau für junge Leute noch eine echte Alternative.“

Das Bild der Zeche Rossenray, auf der er angefangen hat, hängt hinter ihm im Kellerbüro des Verwaltungsgebäudes der Zeche West. Hier empfängt Jonas Besucher für die Grubenfahrten. „Das war damals eine Todsünde, als Kamp-Lintforter da hinzugehen. Da konnte man die spätere Zusammenlegung ja noch nicht ahnen“, erzählt Jonas, während er auf das Okay zum Einfahren wartet. Er hat die Stilllegung der Moerser Zechen Rheinpreußen (1990) und Pattberg (1993) hautnah miterlebt. „Wir waren mal sieben Bergwerke mit 25.000 Bergleuten am linken Niederrhein“, erinnert er sich, während er seine Besuchergruppe über die Straße in die Lohnhalle führt. Zuverlässigkeit, Teamgeist und körperliche Belastbarkeit, sagt Jonas, machten die Arbeit unter Tage aus.

In der Lohnhalle sind Infotafeln mit den Stationen der letzten Jahre Bergbau in der Region zu sehen, der in Kamp-Lintfort im Jahre 1906 mit dem Teufen der ersten Schächte seinen Anfang nahm. Die Bilder zeigen auch die Mahnwachen auf Pattberg, erinnern an das „Band der Solidarität“. Sie erzählen von früheren Arbeitskämpfen, die heute trotz der Schließung der Zeche Dinslaken-Lohberg Ende 2005 und des baldigen Aus‘ von Walsum Mitte 2008 bislang ausgeblieben sind.

In der Kaue sind an einer großen Tafel winzige Schildchen mit den Namen der Kumpel aufgeführt, die an diesem Tag eingefahren sind: 24 Reihen oben wie unten, jede mit 21 Namen. Die Besucher werfen sich in die Klamotten für die Stunden unter Tage. Mit dem blauen Hemd, dem Halstuch, den Socken, der Grubenlampe, dem Helm und den Stiefeln streifen die Gäste unbewusst auch ein Stück Bergbaukultur über.

Durch die Hallen geht es zum „leistungsstärksten Betrieb der deutschen Steinkohle“: dem Flöz Mathilde östlich unter Saalhoff. Insgesamt verfügt die Zeche West über 130 Kilometer Strecke. 3,7 Millionen Tonnen Kohle hat die Zeche im letzten Jahr insgesamt eingefahren. „Das mit dem Auslaufbergbau hab ich erst mal nur so gehört“, sagt Roland Jonas. Er setzt offenkundig auf den SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering, der noch vor kurzem auf einer Betriebsversammlung der Zeche West für einen Bergbau nach 2018 votiert hat.

Bald eine Geisterstadt?

Am Lift warten bereits mehrere Kumpel, wer durch die Luke in den Förderkorb will, muss sich bücken. Mit rund einem Dutzend von ihnen geht es dann 885 Meter tief unter die Erde. Der Wind pfeift einem während der Fahrt um die Ohren. Unten angekommen, geht es durch eine hellen Stollen hin zu den winzigen Personenzügen, die die Arbeiter tief in den Schacht hineinbringen.

Bernhard Mewes, der für die Arbeit unter Tage jeden Tag aus Kevelaer anreist, erzählt, dass er sich an die Wechselschichten im Bergbau wohl nie gewöhnen werde. „Da ist man immer total kaputt“, sagt der 48-jährige Elektriker, der gut 3.000 Meter Förderband unter seiner Kontrolle hat. Der Wandel der Technik sei bei seiner Arbeit das Faszinierende, erzählt er. „Die Technik überholt einen ja fast, da muss man nicht mehr zu den einzelnen Stationen gehen, um die Strecken zu prüfen.“ Was die Zukunft der Zeche angeht, gebe es viele Gerüchte, meint Mewes. „Da wird an jedem was Wahres dran sein, aber die Zeche schließt schon seit 20 Jahren. Ich glaube an die Dinge erst, wenn sie feststehen.“ Sollte es soweit kommen, werde Kamp-Lintfort eine Geisterstadt. „Denn ob BenQ Weihnachten überlebt, weiß heute auch noch keiner“, malt Jonas eine düstere Zukunft. Viele Kumpel seien in jüngster Vergangenheit zum Handyhersteller BenQ gewechselt – in der Hoffnung auf einen zukunftssicheren Arbeitsplatz.

Begleitet vom Klacken der Bandmaschine geht es an Stangen entlang mehrere hundert Meter durch das Halbdunkel des Stollens. Es ist schwül warm, der Untergrund ist uneben und nur die Grubenlampe verhindert, dass man umknickt oder hinfällt. Währenddessen rechnet Roland Jonas die wirtschaftlichen Leistungen des Bergbaus vor: „eine Milliarde Euro an Lohn, 2,4 Milliarden an Aufträgen für die Zulieferindustrie.“ Die Folgekosten des Bergbaus über Tage – die Bergschäden an Häusern und Gebäude und das größere Sicherheitsrisiko, dass durch den Abbau am Niederrhein für die Deiche und die Region entstanden ist – tauchen in seiner Aufzählung nicht auf.

An einem Streckenkopf legt Mario Kalnins mit zwei seiner Kollegen eine kurze Pause ein, bevor es zum Ende der Schicht zur Bahn zurückgeht. „Wir haben hier pro Tag an die 20 Meter gemacht“, erzählt der 39-jährige Hauer stolz. Gut eine Million Fettkohle seien hier drin gewesen, ergänzt Roland Jonas. Die Debatte um die Zukunft des Bergbaus nimmt Kalnins gelassen: „Über die Kohle wird immer geredet. Wissen doch alle, wie wichtig das ist.“ Sorgen mache ihm eher, dass der Nachwuchs ausbleibt. „Es ist kein Jugendlicher da, den ich hier unten an den Maschinen anlernen kann.“ Der eigene Sohn lerne Einzelhandelskaufmann. Der Beruf des Bergmanns sei anscheinend nicht mehr sehr erstrebenswert, so Kalnins. So habe sein eigenes Privatleben unter der Arbeit sehr gelitten. „Du hingst früher nur auf der Zeche rum und hattest Wechselschicht. Bis die Frau dann irgendwann gesagt hat: Tschüss.“ Jeder zweite Kumpel sei geschieden, bestätigen auch seine Kollegen.

„Bergmann aus Tradition“

Am Ende des Stollens steht die riesige Vortriebsmaschine still. In einem Seitenstreb müssen gerade noch Stempel gesetzt werden. Hier sind Strebmeister Volker Brücksken und drei seiner Kollegen zugange. „Der Flöz ist hier 1,20 Meter und ist 320 Meter lang. Das ist ein Filetstück“, sagt er und rutscht zum Gespräch nach vorne zur Maschine. „Hier haben wir einen Zylinder mit Druckaufschlag, wo dann der Hobel nach vorne geht und ins Gestein schneidet“, erläutert er den Abbauvorgang. Der Frage nach den Folgen des Kohleabbaus weicht Brücksken nicht aus. „Wir versuchen, die Oberfläche möglichst zu schonen“, sagt Brücksken. „Hier liegen aber sieben Abbaufelder übereinander, das ergibt dann schon ein paar Meter Bruch mit den Jahren.“

Der 37-jährige ist seit 21 Jahren unter Tage. „Ich bin Bergmann mit Leib und Seele und aus Tradition.“ Volker Brücksken gehört zur fünften Generation, die quer verteilt übers Ruhrgebiet in den letzten Jahrzehnten Kohle geschürft hat. „Ich hab hier mit meinem Vater zehn Jahre gearbeitet, so wie der Vater mit dem Opa“, erzählt er. Der Vater betreibt inzwischen das Bergbaumuseum im benachbarten Duisburg-Rheinhausen.

Volker Brücksken fühlt sich als Rossenrayer, darauf legt er Wert. Und er ist stolz, dass er trotz vieler Wechselschichten glücklich verheiratet ist. Gerne würde er den Stab an seinen Sohn weitergeben. „Aber die Politik wird das wohl nicht zulassen.“ Für Brücksken steht fest: „Ich bleib solange hier, bis der Deckel drauf ist.“ Daraus spricht wohl auch die Hoffnung, dieses möge noch in möglichst weiter Ferne liegen. Roland Jonas drängt zur Eile – der Untertagezug wartet.