Das freie Spiel der Kinder

Eine Waldorfkita in Köln nutzt ihre Nähe zum Wald für Naturerlebnisse und für die therapeutische Arbeit mit behinderten Kindern

VON CHRISTOPH RASCH

Geduldig setzt Lukas die Äste und Rinden zusammen, immer wieder, bis sein kegelförmiges, hexenhausartiges Bauwerk steht. „Im Wald zu spielen macht mehr Spaß als drinnen“, sagt der Vierjährige, „schließlich kann man hier echte Häuser bauen.“ Denn „echte“ Häuser – auch die kleinen, etwas instabilen – stehen nun mal draußen. Und was ein ambitionierter Waldorfkindergarten ist, der geht eben raus in die Natur. So oft wie möglich, zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter.

Ein Montagvormittag im September. Lukas und seine Spielkameraden stürmen den Kölner Königsforst. Ziel der quirligen Horde ist die „Bogenlichtung“, wo sich der Stamm des größten Baumes fast im Halbkreis zu Boden biegt. Zwischen drei und sechs Jahre alt sind die Kinder in der integrativen „Regenbogen“-Gruppe der Waldorfkindertagesstätte Köln-Brück. Von den 15 Kindern der Gruppe ist ein Drittel behindert.

„Klassische Pädagogik versucht, auf vorhandene Störungen und Defizite der Kinder einzugehen“, sagt Betreuerin Katrin Eickmeyer, „wir wollen mit den schon vorhandenen Fähigkeiten der Kinder arbeiten und diese stärken.“ Die 28-jährige Heilpädagogin lernt da schon mal die improvisierten Gebärden des kleinen Fritz, dessen Sprachentwicklung gestört ist. „So bekam er den Raum, um sich weiterzuentwickeln“, sagt Eickmeyer, „und dieses Konzept entspricht meinem ganzheitlichen Menschenbild.“ Auch wenn es für die Pädagoginnen mehr Arbeit bedeutet.

Neben den regelmäßigen Wald-Exkursionen sensibilisiert das halbe Dutzend Betreuerinnen die Kinder – und Eltern – auch in Workshops für Flora und Fauna: Gemeinsam schnitzen sie Jungholz, bauen Nisthilfen für Vögel, organisieren eine „Kräuterwerkstatt“ oder basteln Kartenständer und Laternenstangen für Sankt Martin.

Tausendfüßler freilegen

Die Gruppe erreicht die Bogenlichtung. Das gelbbraune Herbstlaub raschelt unter den Füßen der Kinder. Nach dem Toben kommt das konzentrierte Beobachten. Ohne Scheu nimmt eines der Mädchen einen dicken Käfer in die Hand, woanders legen Kinder unter toten Baumrinden fachmännisch Tausendfüßler frei. „Wichtig ist, dass die Kinder dies als freies Spiel erleben“, sagt Eickmeyer, „und nicht als geplanten Waldunterricht.“

Doch die wöchentliche Forstvisite dient nicht nur dem Erleben des Jahreslaufs – der anthroposophischen „Rhythmus-Pflege“ – oder dem Kennenlernen der Natur. Denn so wie beim Kitagebäude am Brücker Mauspfad auf behindertengerechte Eignung geachtet wurde, haben die Betreuerinnen den benachbarten Königsforst als nicht nur pädagogisch, sondern auch therapeutisch sinnvoll entdeckt.

Moritz ist ratlos. Mit geschlossenen Augen muss er den Inhalt seiner Hände erraten: „Hart wie ein Stein, oder ist es eine Eichel?“ Schließlich blinzelt er doch, und Paulina und Annika sind an der Reihe, um ihrerseits Tannenzapfen und Rindenstücke zu ertasten. „Diese klassische Wahrnehmungsübung wird mit Naturmaterial selbstverständlicher, kann subtiler in spielerisches Erleben eingebunden werden“, sagt die Physiotherapeutin Christina Konnert.

Therapeutische Maßnahmen werden hier in „Geschichten verpackt“: Jule, eines der behinderten Kinder in der Gruppe, konnte ihre ersten Waldtouren nur im Rollbuggy mitmachen. Nun balanciert das Mädchen mit Down-Syndrom auf eigenen Füßen und nimmt schlüpfrige Wurzelstümpfe am Wegesrand quasi „im Vorgehen“ – geführt von der Hand der Krankengymnastin.

Die Spielvarianten sind vielfältig, die Lichtung verwandelt sich in Sekundenschnelle in einen spielerischen Natur-Parcours. Aus einem dicken Ast und den Armen der Betreuerinnen werden improvisierte Schaukeln, während Konnert die Kinder mit ihren bewährten Tastspielen lockt. Oder sie lässt die Knirpse einzeln – unter dem Applaus der anderen – von den Bäumen baumeln: „Gut fürs Selbstbewusstsein, sich aus eigener Kraft halten oder einfach fallen lassen zu können.“ Nur die Kletterübung mit den Baumseilen hat der Förster verboten.

„Die Kinder legen heute mehr Wert auf ihre Individualität – und wehren sich gegen allzu deutliche pädagogische Gruppen-Programmatik“, sagt Kindergartenleiterin Eva Nahrwold, die die Kinderschar eine gute Stunde später am Hintereingang wieder in Empfang nimmt. Das Konzept scheint zu funktionieren: Die einzige Waldkita im Kölner Osten – getragen übrigens von einer eigenverantwortlichen Elterninitiative – ist gefragt.

Für die 7 jüngsten Vakanzen unter den 35 festen Plätzen hier bewarben sich zuletzt 30 Familien. Naturerlebnis, gesunde Ernährung und „eine feste Tages- und Jahresstruktur“ seien die wichtigsten Kriterien für die Eltern, berichtet Nahrwold. Und die Kinder? Wie prägt die Kita deren weiteren Lebensweg? „Kinder, die hier waren, entwickeln nicht selten eine starke kreative Ader“, sagt die Leiterin, „und aus den ersten Generationen bewerben sich heute einige für ein Praktikum bei uns.“

Auch Lukas sitzt jetzt ruhig an einem Tischchen und bastelt. Seine „echten“ Häuser musste er draußen im Wald lassen. Doch das Material ist hier wie dort dasselbe: Kastanien-Igel, Tannenzapfen, glatt geschmirgelte Holzfetzen, Steinchen – was die Kinder im Königsforst finden, landet auf dem „Jahreszeitentisch“ oder in den Kramkisten. Und wird dort mit kindlicher Fantasie zum Handy, zum Sortiment im Kaufmannsladen – oder eben zum Hexenhäuschen. „Im Wald gibt es Spielzeug“, sagt Kita-Chefin Nahrwold, „das eben nicht vorgefertigt, sondern unendlich wandlungsfähig ist.“