Vom Müll in den Olymp

Indische Woche der Wahrheit: der Weg des Curry-Dichters Schlawindra Kanndoch Singh

Am Rande der Stadt Kanpur, am sumpfigen Ufer des heiligen Flusses Ganges, im Dunstkreis eines zum Himmel stinkenden Müllberges, wuchs ein Knabe auf von schmächtiger, buckliger Gestalt, mit schielenden Augen, krummen Beinen, einer gewaltigen Nase und noch gewaltigeren Ohren am reichlich großen Kopf. Zorn keimte im Herzen des Vaters über den Balg, den Hässlichen, den nutzlosen Fresser, der es seinen 22 Brüdern niemals gleichtun und erlernen und fortführen würde das Handwerk der Senfkornstampfer, das die Sippe seit Generationen erst zur Zufriedenheit des Maharadschas von Darjeeling, später im Auftrag des Nestlé-Konzerns ausübte. Denn dazu brauchte es Saft und Kraft, mit der die Dreieinigkeit der Götter Shiva, Brahma und Vishnu den Knaben leider nicht gesegnet hatte und wohl niemals segnen würde, obwohl die geschroteten Früchte des Feldes und der scharf gewürzte Brei aus reifem Obst in seinem Schlund verschwanden, als wär er ein Brunnen ohne Boden.

Mit den Jahren aber wuchs und wuchs noch sein Appetit, wobei der Knabe selbst jedoch nicht größer als ein Affe wurde, genau genommen auch so aussah, ein verwachsener Gnom, der dem Vater die grauen Haare derart vom Kopfe fraß, dass diesem, so er nur daran dachte, stets der Kamm unterm Turban schwoll und er den Vielfraß unter Flüchen aus der Hütte trieb.

Da weinte die Mutter bittere Tränen, denn sie liebte den Knaben, und Wonne sprang in ihre Brust, sobald sie den Unglückswurm in der Hütte herumtapsen sah: Schlawindra, den Nimmersatt, den Neumalklugen und Wissbegierigen, den mit schielenden Augen alles Bedruckte Verschlingenden, den kleinen Scheißer, der an seinem dritten Geburtstag sieben Hindi-Dialekte beherrschte, mit vier begann, in Reimen zu sprechen und mit sechs die Urpanischaden und das Gesamtwerk der Beatles fehlerfrei abzusingen vermochte. Wer die Beatles waren, wusste die Mutter nicht, ebenso wenig, woher ihr Sohn das hatte. Weil sie aber ahnte, dass Schlawindra etwas ganz Besonderes war, und um dem Gatten eins auszuwischen, der den Sohn auf den Namen Nurärgerhatma getauft hatte, rief sie ihn fortan Kanndoch Singh.

Als Schlawindra Kanndoch Singh 15 Jahre alt war, fühlte er außer dem ewigen Hunger auch die Unzufriedenheit. Er merkte, dass man in der Hütte am sumpfigen Ufer des Ganges alles, was man wusste, in ihn gegossen hatte, aber das Gefäß war dennoch so gut wie leer. Also sprach er zur Mutter: „Liebste Frau, wir müssen scheiden, / das lässt sich leider nicht vermeiden, / nach dem Frühstück will ich gehen / und mir einmal die Welt ansehen. / Grüß die Brüder, grüß Papa, / morgen bin ich nicht mehr da.“

Vor Kummer wollte der Mutter schier das Herz zerspringen, und sie sandte ein Stoßgebet an alle 3.475 Gottheiten, die ihr auf die Schnelle einfielen, dass sie es regnen lassen sollten mindestens eine Woche lang. Den wer bei Regen aufbricht, sagt ein indisches Sprichwort, der ist selbst schuld, den wird ein Brite berühren oder der Teufel holen. Und kein Inder vermag zu sagen, was schlimmer ist.

Aber als sie aus dem Fenster sah, glänzte der Himmel wie ein blaues Seidentuch, und Schlawindra schnürte sein Bündel. Bald war er hinter dem Müllberg verschwunden und grübelte, welcher Tag wohl heute wäre und wohin er sich wenden sollte. Denn jedes Kind in Indien weiß: montags und samstags darf man nie nach Osten reisen, dienstags und mittwochs sollte man den Norden meiden, donnerstags den Süden und freitags den Westen. Da fiel Schlawindra ein, dass es Sonntag war, und er ging munter der untergehenden Sonne entgegen.

Schlawindra lernte bei jedem Schritt seines Weges Neues, denn die Welt war bunt und der Knabe scharfsinnig. Er sah die Menschen auf Feldern arbeiten und sah, sie waren dürr wie die Vogelscheuchen. Da dachte er bei sich, das ist vergeudete Zeit. Er kam nach Bombay, wo die Menschen in stickigen Schuppen an Handys, Computern und Cheeseburgern schraubten, und man gab ihnen kaum eine Rupie dafür. Da dachte er bei sich, so sieht die Dummheit aus. In Kalkutta stieg er über tote Kühe und Menschenleichen, und er dachte sich nichts dabei. Denn einer Leiche zu begegnen, sagen die Veden, bedeutet Glück und Segen. Frohgemut setzte er die Reise fort.

Eines Tages gelangte Schlawindra Kanndoch Singh an eines reichen Brahmanen Haus. Da sein Magen knurrte wie der Tiger von Eschnapur, klopfte er an die Tür und bat um Essen. Der Brahmane besah sich den hässlichen Zwerg, gedachte sich einen Spaß zu machen und sprach: „Aber du musst es dir verdienen. Was kannst du denn?“ – „Gib du mir Reis, von deinem Weine / ich mach dafür famose Reime“, antwortete Schlawindra. „Na prächtig“, sagte der Brahmane, „wenn du auf ein jedes Gewürz, das ins Curry gehört, einen Vers zu machen verstehst, sollst du essen, bis du platzt.“

Schlawindra ließ sich nicht lange bitten. „Wer vergisst den Koriander, / hat nicht alle beieinander“, dichtete er und: „Curry ohne Kurkuma, / schmeckt wie der Fuß von Omama.“ So ging es weiter und weiter, und Schlawindra aß und aß, aber er platzte nicht, sondern wurde bald im ganzen Land gefeiert als der erhabene Curry-Dichter Kanndoch Singh, der er bis zum heutigen Tage ist. MICHAEL QUASTHOFF