Suche nach multiplen Wahrheiten

Er macht Kunst über die künstlerische Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung. Abseits der bekannten rheinischen Kunstroute wird das Schaffen des englischen Konzept-Künstlers Stephen Willats im Museum für Gegenwartskunst in Siegen erstmals in Deutschland umfassend gewürdigt

AUS SIEGEN KATJA BEHRENS

Seitdem Stephen Willats in den späten 1950er Jahren künstlerisch zu arbeiten begonnen hat, stellt er die traditionelle Rolle des Schöpfer-Künstlers zur Disposition, erweitert den strengen Werkbegriff und löst die gängigen Hierarchien zu Gunsten einer offen dialogischen Struktur auf. Diese Art kritischer Konzeptkunst wird heute von der Aufwertung traditioneller Autorschaftmodelle und der Rückkehr zu Formen ästhetischer Erfahrung überholt, in denen der Rezipient wieder verstärkt affektiv involviert sein soll. Vielleicht gerade deshalb aber ist die Rückschau auf das inzwischen historische Werk des britischen Künstlers (geboren 1943 in London) so herzerfrischend.

In der retrospektiven Schau „Wie die Welt ist und was sie sein könnte“ im erst fünf Jahre alten Siegener Museum sind rund 60 Arbeiten des frühen Konzeptkünstlers Stephen Willats zu sehen, der auch in den neuesten Arbeiten an seinem Prinzip festhält, die Mitwirkenden an der Konstituierung des Kunstwerks wirklich zu beteiligen. Bei „Nothing is Quite as it Appears“ (2000) ebenso wie schon bei den Befragungen der Mitglieder in vier Tennis-Clubs der englischen Stadt Nottingham „The Social Resource Project for Tennis Clubs“ (1971) oder dem großen Projekt „Man from the Twenty First Century“ von 1969/1970, bei dem der Künstler zusammen mit Studenten in einer Arbeiter- und einer Mittelschichtsiedlung die unterschiedlichen Wohnmilieus zum Ausgangspunkt von Fragen nach Lebensgewohnheiten und „den Möglichkeiten einer kreativen Selbstverwirklichung“ gemacht hat. Die Gestaltung der Wohnung und des Vorgartens wurden zum Ausdruck individuell geglaubter, in Wahrheit wohl vom kollektiven Geschmack sanktionierter Uniformität. Sympathischerweise aber verkneift sich Willats jeden Kommentar – anders als etwa Jean Baudriallard in seinem 1968 erschienenen Buch „Das System der Dinge“. Über das Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, das in eine systematische Kritik der Konsumgesellschaft und ihrer Selbstkonstruktion mündet.

Von 1979 bis 1980 lebte Willats als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austausch Dienstes (DAAD) in Berlin, hat schon damals und seither immer wieder die prekäre und spezielle Insel-Situation der Stadt zum Ausgangspunkt von Recherchen genutzt ( „Vier Inseln in Berlin“, 1979-1980). So befragte er Menschen nach ihrer Lebenssituation, ihren Bedürfnissen und Strategien kreativen Selbstausdrucks, stiftete einen Dialog, der die Beteiligten nicht zu wissenschaftlichen Studienobjekten degradiert, sondern sie als Gestalter ihres eigenen Lebens ernst nimmt. Keine Kommentare und keine Theorie krönen die Recherchen und so kann sich auch der Besucher ernst genommen und eben nicht bevormundet fühlen. Deutlich wird, dass die Suche nach multiplen Wahrheiten und den unterschiedlichen Ausprägungen von Selbst- und Fremdwahrnehmung (z.B. „Perceptions of a Married Couple“, 1975) von Beginn an der Motor seines Schaffens sind. Selbst die frühesten Zeichnungen und Experimente lassen sich als künstlerische Modelle komplexer Kommunikation lesen.

Mittels Fragebögen, Super 8-Filmen, Fotografien, Tonbandaufnahmen und spielerischen Experimenten gelingt es Willats seine Beobachtungen zu einer Phänomenologie zu bündeln, die den „Anspruch, gesellschaftlich sinnstiftend zu wirken“ nie hinter planvoller Coolness verstecken muß. Die nur scheinbar soziologische Studie wird im Umgang mit den alltagsbanalen Dingen und Verhaltensweisen der Menschen zu urbaner Feldforschung mit humanistischem Impuls. Um so mehr erstaunt es, daß Willats als Konzeptkünstler erst allmählich und viele Jahre verspätet vom größeren Publikum wahrgenommen wird.

Das dank einer privaten Mäzenin exklusiv bestückte Museum für Gegenwartskunst in Siegen hat nun das Glück, als erstes Institut in Deutschland das Werk Stephen Willats umfassend zu zeigen – bevor im nächsten Jahr in den Berliner Kunst-Werken eine große Retrospektive des Konzeptkünstlers geplant ist. Dann aber wird am Geburtstag des flämischen Barockmalers in Siegen der Rubens-Preis an den zeitgenössischen Malerstar Sigmar Polke verliehen.

Museum für Gegenwartskunst, SiegenBis 14. Januar 2007Infos: 0271-4057710