Das Dorf vor der Stille

SCHULSTERBEN Die Schülerzahlen gehen bundesweit zurück, im Osten kam der große Knick gleich nach der Wende. In Sachsen-Anhalt gibt es noch 75 Kleinstschulen. Jetzt sollen die meisten davon geschlossen werden

Nebenan wird nur noch beerdigt. „Dann müssen wir leise sein“, sagen die Kinder

AUS SCHKÖNA MICHAEL BARTSCH

Ein typisches Schulgebäude sei das nicht, sagt Schulleiterin Renate Puschkasch. Seit 1855 ist das schmucke weiße Gebäude mit dem Fachwerk im Obergeschoss eine Grundschule und zugleich Sitz der Gemeindeverwaltung der 700-Seelen-Gemeinde Schköna in der Dübener Heide. Die vier Klassenräume erinnern ebenso wie der Hortraum oder das „Tobezimmer“ eher an Wohnräume. Ein winziges Lehrerzimmer, der Kopierer beansprucht ein Viertel des Raumes. Es muss jetzt nur noch zwei Lehrerinnen Platz bieten. Denn mit derzeit 28 Schülern hat Schköna im Südosten von Sachsen-Anhalt die kleinste Grundschule Deutschlands.

Noch gehört die Schule, das letzte verbliebene Gemeindezentrum, zum Dorf. Einen kleinen Kindergarten gibt es sonst noch im Ort, einen Fleischer, an der Kirche nebenan wird nur noch beerdigt. „Dann müssen wir leise sein“, sagen die Kinder.

Seit sich der Wendegeburtenknick Ende der neunziger Jahre überall im Osten bemerkbar machte, unterschreitet Schköna die geforderte Mindestzahl von 60 Schülern. Lange zeigte sich das dünn besiedelte Sachsen-Anhalt mit Ausnahmegenehmigungen für Schulen in ländlichen Räumen großzügig. Kämpfe von Eltern, Lehrern und Bürgermeistern um Schulstandorte, wie sie sich wenige Kilometer entfernt in Sachsen abspielten, blieben dem Land bislang erspart.

Vor einem Jahr aber machte Finanzminister Jens Bullerjahn (SPD) Druck. Die Liste der Grundschulen mit weniger als 60 Schülern umfasste damals 75 Orte. Ganz oben Schköna. Zwar verständigte sich die schwarz-rote Koalition, die Untergrenze für Dorfschulen auf 52 Schüler zu senken. Dennoch sollen 41 Schulen in diesem Sommer schließen, darunter auch Schköna. Für 23 hat das Landesschulamt die entsprechenden Anträge der Schulträger schon bestätigt.

„Das kleinteilige Grundschulnetz ist nicht mehr finanzierbar“, erklärte Kultusminister Stefan Dorgerloh (SPD) in der Vorwoche nochmals im Magdeburger Landtag.

Für Schköna gibt es noch ein wenig Hoffnung. Schulträger ist die 8 Kilometer entfernte Gemeinde Gräfenhainichen, und dort halten der Stadtrat und Bürgermeister Harry Rußbült (Linke) an der kleinen Grundschule fest. „Ich werde meinem Stadtrat nicht empfehlen, die Grundschule zu schließen“, sagt er. Erneut hat er einen Ausnahmeantrag an die Hallenser Außenstelle des Landeschulamts gestellt. Doch die Eltern seien durch die anscheinend aussichtslose Situation der Schule zunehmend verunsichert, räumt Rußbült ein. In früheren Jahrgängen konnten in Schköna manchmal schon keine Eingangsklassen gebildet werden, für das kommende Schuljahr liegen nur Anmeldungen für drei Schüler vor. „Auch eine Methode, eine Schule kaputtzumachen“, grollt Rußbült.

Am idyllisch im Wald gelegenen Schköna ist das Dilemma sogenannter Zwergschulen mit den Händen zu greifen. Seitdem eine Kollegin Ende Januar in Rente ging, sind sie nur noch zu dritt. Zwei Lehrerinnen und eine Halbtagssekretärin unterrichten und beaufsichtigen die Kinder und sind nebenbei noch Horterzieher und Hausmeister. „Die Verhältnisse sind eigentlich nicht mehr tragbar“, seufzt die Direktorin.

Dass die Unterrichtsqualität an Zwergschulen generell eingeschränkt sei, dieses Argument lässt Puschkau aber nicht gelten. In Schköna machte man aus der Not eine Tugend und führte mit Erfolg moderne Unterrichtsmethoden ein. Kinder verschiedenen Alters werden in einigen Fächern jahrgangsübergreifend unterrichtet. Eine dritte Klasse gibt es zurzeit nicht. Im gemeinsamen Unterricht sitzt immer ein Zweitklässler neben einem Viertklässler, es gibt Lernpatenschaften und Freiarbeit nach Montessori.

Für Englisch oder Ethik, aber auch für individuellen Förderunterricht kommen Lehrer stundenweise von auswärts, ebenso ein Musiklehrer, der im Rahmen des Landesprogramms „Musikästhetische Bildung“ Instrumentalunterricht erteilt. Ein halbes Dutzend Computer stehen ebenfalls bereit.

An den weiterführenden Schulen gehörten ehemalige Schkönaer Schüler in der Regel zu den Besseren und Besten, berichtet die Schulleiterin über fortgesetzte Schülerkontakte. Sogar aus Gräfenhainichen hatten Eltern ihre Kinder „auf’s Dorf“ geschickt wegen der anregenden Lernbedingungen.

Die Kinder loben den Auslauf, den sie hier haben und die heimelige Schulatmosphäre. „Hier gibt es nicht so viel Getobe“, sagen sie. Die Kehrseite: Gibt es, wie vor einigen Jahren, ein verhaltensauffälliges Kind, mischt das die halbe Schule auf.

Für einen reibungslosen Schulbetrieb müsste das Schulamt eine neue Lehrkraft schicken. Doch bisher gewährt das Amt dem vermeintlichen Auslaufmodell Schköna keinen Ersatz. Schulleiterin Renate Puschkau ist geneigt, sich in das Unvermeidliche zu fügen. Selbst die kontrovers diskutierte Möglichkeit, dass Schköna als Zweigstelle der Grundschule in Gräfenheinichen weiter existieren könnte, brächte nichts, wenn das Personal nicht gestellt werde. Falls sie den Betrieb zum Schuljahresende einstellen müssten, wäre das die zweite Schule, in der Paschkau als Schulleiterin das Licht löschte. Im Jahr 1997 hatte sie die Grundschule in Tornau, wo sie wohnt, bis zum Ende begleitet.

Die Schkönaer Grundschüler können sich das ebenso wenig vorstellen wie die Einwohner. Keine Seniorenfeiern, kein Weihnachtsmarkt, keine Sportfeste mehr im Ort. Auch dafür stand die Schule. „Das Lachen und Singen der Kinder auf dem Schulweg wird fehlen. Dann wird es still in Schköna“, sagt Sylvia Schliefke, die an der Schule als pädagogische Hilfskraft arbeitet. Es ist ihr letzter Tag. Auch die Maßnahme der Arbeitsagentur läuft aus.

In Magdeburg protestierte am Rande der Landtagssitzung in der vergangenen Woche das Aktionsbündnis „Grundschulen vor Ort“ gegen die Schließungswelle. Drinnen in der Johanniskirche lassen CDU und SPD nur erkennen, dass sie die Schließungen für überfällig halten. Ein Linken-Antrag auf ein Moratorium, das Zeit für einvernehmliche Lösungen schaffen soll, wird abgelehnt. Nach Kürzungen bei der Kultur und den Hochschulen trifft es eben nun die Grundschulen.