Zweifel an der Schuldfähigkeit

JUSTIZ Ein zu lebenslanger Haft verurteilter Doppelmörder wird nach 16 Jahren aus dem Gefängnis entlassen. Das Verfahren muss neu aufgerollt werden. Der Mann gilt als psychisch krank. Kritik am ehemaligen Gutachter

„West-Rentner waren symptomatisch für den Aufbau der Justiz“

ARNO GLAUCH, ANWALT

VON MARINA MAI

Wegen eines möglichen Justizirrtums ist ein vor 16 Jahren zu lebenslanger Haft verurteilter Mörder mit sofortiger Wirkung aus der JVA in Bautzen entlassen worden. Angeordnet hat dies das Landgericht Chemnitz vorige Woche. Das 1994 geführte Verfahren muss jetzt neu aufgerollt werden. „Es liegen drei Gutachten vor, aus denen sich Anhaltspunkte ergeben, dass der Angeklagte zur Tatzeit nicht schuldfähig gewesen sein könnte“, sagte Gerichtssprecher Stefan Buck. Bis zu einem neuen Urteil muss der Mann in einer geschlossenen Klinik bleiben.

Der heute 41-Jährige, der im Wendejahr 1989 als vietnamesischer Vertragsarbeiter nach Sachsen kam, soll im August 1993 zwei Landsmänner in Plauen erschossen haben. Anschließend stellte er sich der Justiz.

Drei unabhängig voneinander erstellte medizinische Gutachten hätten jetzt Zweifel an der Schuldfähigkeit seines Mandanten ergeben, sagte sein Anwalt Arno Glauch. Der Vietnamese soll an Schizophrenie erkrankt sein. Dass das Gericht nach so vielen Jahren wieder Gutachten in Auftrag gab, verdankt der Mann der Möglichkeit, dass auch lebenslange Haftstrafen zur Bewährung ausgesetzt werden können. Dazu stand bei ihm eine Prüfung an.

„Ich hatte ein erstes Sachverständigengutachten beantragt, weil mein Mandant sich in der Haft psychisch auffällig verhalten hat“, sagte der Anwalt. Zwei weitere Gutachten folgten.

Ein neues Verfahren soll nun klären, ob der Vietnamese 17 Jahre lang zu Unrecht in Haft saß. Alle Zeugen und Gutachter, auf die man noch zurückgreifen kann, sollen noch einmal gehört werden. Der Angeklagte muss bis zu einem neuen Urteil in einer geschlossenen Klinik verbleiben. „Das ist lediglich eine vorläufige Unterbringung und hat mit einer Sicherheitsverwahrung nichts zu tun“, sagte Gerichtssprecher Stefan Buck.

Da psychische Erkrankungen in Vietnam ein Tabu seien, habe sein Mandant sich vor seiner Inhaftierung nicht untersuchen und behandeln lassen, erklärte sein Anwalt. Eine Behandlung gab es auch nicht in der JVA Bautzen, weil die Krankheit nicht bekannt war. Doch auch jetzt müsse er weiter darauf warten.

Grund für den möglichen Justizirrtum ist das 1994 vom Landgericht Zwickau in Auftrag gegebene medizinische Gutachten, das den Vietnamesen als voll schuldfähig bezeichnete. Nach Angaben des Anwalts hat dieses ein damals 79-jähriger bayerischer Medizinalrat gefertigt, der kein Psychiater sei. Glauch: „Die neuen Gutachten kommen zur Erkenntnis, dass beim ursprünglichen Gutachten die Mindestvoraussetzungen an ein forensisch-psychiatrisches Gutachten nicht gegeben waren.“

Gerichtssprecher Buck bestätigte, dass die Qualifikation des damaligen Gutachters im neuen Verfahren geprüft werde. Nach Angaben des Anwalts ist die Heranziehung von „rüstigen Rentnern aus den alten Bundesländern“ als Richter und Sachverständige „symptomatisch für den Aufbau der Justiz in den neuen Bundesländern nach der Wende gewesen. Man hat halt gern auf Sachverständige zurückgegriffen, die man kannte“.

Ungeklärt ist bislang noch, ob sich der Vietnamese bei einer möglichen Entlassung in die Freiheit legal in Deutschland wird aufhalten dürfen. 1997 konnten ehemalige Vertragsarbeiter ein Daueraufenthaltsrecht beantragen. Als verurteilter Straftäter war der Mann davon allerdings ausgeschlossen.