Konfirmandenanzüge, lateinische Sentenzen und minimalistische Regale: Rafael Horzon kommt aus Mitte, dem Zentrum der Moderne
: Der grimmige Humor des Zeitgeists

VON ULRICH GUTMAIR

Ich konnte Kokain noch nie leiden, außer beim Zahnarzt. Für seine lokalanästhesierende Wirkung bin ich dankbar, fühle mich aber kalt und nervös. Opium regt die Fantasie an, LSD auch. Heroin macht friedlich, Hasch musikalisch, Schnaps gesprächig, Whiskey schön warm. Crystal Meth macht kaputt, aber schöne Serien. Das sind Effekte, die anzustreben ich nachvollziehen kann, auch wenn ich seiner psychedelischen Wirkung wegen das Weizenbier bevorzuge.

Kokain ist der Zombie unter den bewusstseinsverändernden Substanzen. Seine antisoziale Wirkung zeigte sich erst vor kurzem wieder bei der Vorstellung von Rafael Horzons „Weißem Buch“ in der Kantine des Berghain. Weil viele blonde Frauen sich gegenseitig das Pulver in die Nase stopften und sich über die Vorteile von Regenschirmen bei Regen unterhielten, war das Herrenklo blockiert. Die Pissoirs nicht mehr zu erreichen.

Dabei heißt das „Weiße Buch“ Horzons gar nicht wegen des Pulvers so. Sein Inhalt gibt – außer eines durch Kakteensaft induzierten Rauschs vielleicht – nichts dergleichen her. „Das Weiße Buch“, im Berliner Suhrkamp Verlag erschienen, ist die selbstironische Autobiografie eines Bohemiens, Entrepreneurs und Impresarios aus Mitte. Es ist vergnüglich zu lesen, was nicht selbstverständlich ist, handelt es sich dabei doch um ein spätes Exemplar der zu Recht vergessenen Gattung der sogenannten Popliteratur.

Horzon beginnt seine Erzählung in Paris, wo er die Vorlesungen Derridas hört. Kurz hält er sich in München auf, dann geht er nach Berlin. Dort trifft er Joy Wagner und ihren Hund. Er treibt sich in den Montags-, Dienstags- und Mittwochsbars von Mitte herum. Irgendwann kommt er zum Schluss, dass die Kunst ihre produktive Phase längst hinter sich hat und es also darum geht, interessante Dinge zu tun, die keine Kunst sind. Horzon entwickelt also Geschäftsideen, tüftelt an merkwürdigen Produkten herum, erfindet idiotische Dienstleistungen und formuliert Motti wie: „Die einfachste Lösung ist die beste Lösung.“

Mit seiner Wissenschaftsakademie, in der obskure Kenntnisse weitergegeben werden, will er den Universitäten Berlins Konkurrenz machen. Seine Partnertrennungsagentur Separitas ist so kurzlebig wie sein Modelabel Gelee Royale. Gesellschaftlich relevant wird sein Tun, als er mit den Galeristen Thilo Wermke und Alexander Schröder den Pelham Club eröffnet, wo sich die neokonservativen Elemente Mittes in Konfirmandenanzug und Kleidchen präsentieren. Wie unter einem Brennglas lässt sich hier beobachten, welch grimmigen Humor der Zeitgeist manchmal besitzt.

In diesem Renaissanceleben wird so viel ausprobiert, dass dem jungen Horzon irgendwann ein Geniestreich gelingt. Es ist das „formschöne“ Regal „Modern“, das sein Unternehmen Moebel Horzon produziert. Dieses minimalistische Regal aus MDF eignet sich bestens für das Aufbewahren von Schallplatten. Es sieht aus wie ein hypermodern-brutalistischer Designklassiker. Der Unternehmer gibt Rabatte für Arbeitslose, Studenten und andere prekäre Fälle. Er fährt die Regale selbst aus. Ich besitze einige davon seit 1997 und kann sie nur empfehlen.

„Das Weiße Buch“ ist ein Bildungsroman voller lateinischer Zitate, der sich über Bildungsromane lustig macht, aber mit fast religiösem Eifer an die Pflicht zur Selbsterfindung glaubt. Das macht dieses Buch so sympathisch und wahr. Es gibt in Zentraleuropa wenige Orte, an denen man so auf die Kraft des menschlichen Geistes und die Zukunft vertraut, wie in Berlin-Mitte. Über die Zustände in irgendwelchen Toiletten sehen wir großzügig hinweg.