Editorial

Wieder so ein Jubiläum, neben 25 Jahre Mauerfall und 75 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs. Doch anders als bei diesen Daten scheint uns der Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren unendlich weit entfernt. Es gibt, anders als bei den Massenmorden der Nationalsozialisten, keine lebenden Zeugen mehr, die von den Schlachten vor einhundert Jahren erzählen könnten. Und mehr noch: In Deutschland ist der Krieg von 1914 bis 1918 angesichts des Zweiten Weltkrieges und von Hitlers Verbrechen in den Hintergrund geraten – ganz anders als in Frankreich oder Großbritannien, wo des „Großen Kriegs“ umfangreich gedacht wird. Doch das Interesse wächst auch in Deutschland, wie die Verkaufszahlen von Christopher Clarks historischer Studie „Die Schlafwandler“ andeuten. Oder ist Clarks Erfolg, wie der Historiker Gerd Krumeich vermutet (Seite 2), vor allem Echo des Wunsches der Deutschen, unschuldig zu sein?

Tatsächlich haben wir mit diesem ersten hoch technisierten Krieg heute mehr gemein, als vielen bewusst ist. Dieser Krieg prägte Europas Geschichte im 20. Jahrhundert. Ohne den Ersten Weltkrieg hätte es keine Machtübernahme der Nazis 1933 gegeben, keinen Holocaust, keinen Stalinismus, keine Ost-West-Spaltung, keine zwei deutschen Staaten und vielleicht keine Europäische Union.

Im Mittelpunkt dieses 12-seitigen Dossiers steht weniger die Nachzeichnung historischer Ereignisse. Die taz hat nach Verbindungslinien zwischen 1914 und 2014 gesucht und seltsame, überraschende, skurrile, erschreckende Verknüpfungen gefunden. Wir berichten von einer vergessenen Grenze des Habsburger Reichs in der heutigen Ukraine, die wieder aktuell zu werden droht (Seite 11). Vom Streit zwischen SPD und Linkspartei um die historische Deutungshoheit 100 Jahre nach der Spaltung der Arbeiterbewegung (Seite 3). Von dem deutschen Maschinengewehr 08/15, einer Chiffre, mit der heute Sparkassen werben (Seite 4). Und von Erfindungen wie dem Teebeutel, den wir der Versorgung der Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg verdanken. Oder dem Reißverschluss und der Herrenarmbanduhr.

Der Erste Weltkrieg ist Vorgeschichte. Die Bilder, die ihn zeigen, sind schwarz-weiß, meist ausgewaschen und graustichig. Dieser Krieg hat etwas Fossiles. Das täuscht. Dieser Krieg prägt Aspekte des politischen Denkens und unseren Alltag bis heute.

KLAUS HILLENBRAND, STEFAN REINECKE