Ein Halbtagsjob zum Leben

Ein Querulant ist er, ausgemergelt und zäh, einer, der die Höhe, Breite und Tiefe seines Schicksals wie mit dem Lineal ausmisst, sachlich bleibt. Er hat ja nichts zu verlieren

AUS BERLIN KATHRIN SCHRADER

An seinem linken Unterarm ist die Haut dünn geworden. Was sich darunter bewegt, ist kein Puls. Es fühlt sich an wie das hastige, zarte Flattern eines winzigen Vogels. Ein Kolibri.

An dieser Stelle hat man den Rhythmus der Zeit unterbrochen, den Fluss der Jahre angestochen. Man hat Arterie und Vene verbunden, weil hier die Kanülen gelegt werden. Der Arm, der so auf den Anschluss an die Maschine vorbereitet wird, heißt „Shund-Arm“. Er trägt rote und blaue Einstiche von zahllosen Dialysen.

Wenn Karlheinz Pranat an seinem Informationsstand auf einem der unzähligen Volksfeste mit den Leuten über Wartezeiten auf Niere und Leber spricht, wenn er, der Streetworker in Sachen Organspende, auf Fragen der Ethik eingeht oder vor Abiturienten referiert, hält er den Kolibri unter der Jacke verborgen. Den rechten Ärmel, den krempelt der 49-Jährige auf, wenn die Sonne scheint, er zeigt seine Muskeln und den blonden Flaum. Dass er selbst eine neue Niere dringend nötig hat, eine Transplantation aber ablehnt, geht niemanden etwas an. Das ist privat. Der Fall Pranat kommt in seinen Referaten nicht vor. Er hält nichts von Fallbeispielen. Er setzt auf Sachlichkeit. Auf Fakten.

Dieser Tage warten in Deutschland 11.500 Patienten auf ein neues Organ. Im letzten Jahr wurden 2.190 Nieren, 396 Herzen, 888 Lebern, 262 Lungen, 165 Bauchspeicheldrüsen und 2 Dünndärme verpflanzt, insgesamt rund 4.000 Transplantationen.

Die Leute auf der Straße stellen Pranat immer dieselben Fragen. „Die Fragen der Gesunden“, nennt der sie. „Was an den Gerüchten über den Organhandel dran ist. Ob man seines Lebens sicher sein kann, wenn man mit einem Organspender-Ausweis unterwegs ist. Und inwieweit sich die Persönlichkeit verändert, wenn man das Herz oder die Leber eines Fremden in sich trägt.“ Er kann alle Fragen beantworten.

Kurz nachdem er in die Schule gekommen war, wurde das Kind Karlheinz krank. Niemand konnte in den Sechzigerjahren feststellen, ob ein Virus oder eine seltene Autoimmunkrankheit seine Nieren zerstört hatte. Seinen Eltern machte man Hoffnung, dass sich die Krankheit in der Pubertät „verwächst“. Sonst hätte der kleine Patient wohl kaum die Chance gehabt, älter als achtzehn Jahre zu werden.

Seine Eltern sterben früh. Der Achtzehnjährige versucht ohne Medikamente weiterzuleben. Er fühlt sich elend. Ein Urologe verordnet ihm Blasentee. Die giftige Flut in seinem Körper steigt. Er hat keine Lust mehr auf Krankenhäuser, schmerzhafte Biopsien und Kortisonkuren, auf das Hin und Her der Ärzte, die Untersuchungen anordnen, deren Befunde sie dann doch nicht benötigen, die mal dieses und mal jenes verbieten und kurz darauf wieder empfehlen, die sich nicht einig werden, ob er Fußball spielen darf oder nicht.

Er sieht sich beim Sterben zu. Freunde bringen ihn gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus. Gegen seinen Willen.

1975 sagen die Ärzte, man könne bis zu zehn Jahren mit der Dialyse, dem regelmäßigen Blutaustausch leben. Er lernt, die Kanülen zu legen und die Maschine, von der jetzt sein Leben abhängt, zu bedienen. Die Maschine bedienen fühlt sich an, als nehme er seine Krankheit endlich selbst in die Hand. Das macht Mut. Er abonniert medizinische Zeitschriften, beschließt, immer genau wissen zu wollen, was mit ihm geschieht.

„Es war mir wichtig, eigene Entscheidungen zu treffen“, sagt Pranat. „Das hat mir natürlich einen gewissen Ruf bei den Ärzten eingebracht.“ Ein Querulant ist er, ausgemergelt und zäh, einer, der die Höhe, Breite und Tiefe seines Schicksals wie mit dem Lineal ausmisst, sachlich bleibt. Er hat ja nichts zu verlieren. Behauptet doch allen Ernstes, die Hepatitisuntersuchung sei nicht notwendig – er könne alle Risiken, die zu einer Infektion führen, ausschließen. Außerdem seien erhöhte Leberwerte bei Dialysepatienten normal. Er habe das gelesen.

Sucht sich den Spezialisten für die komplizierte Entfernung der Nebenschilddrüse selbst aus und lässt sich nicht mit Ausreden hinhalten, als ein anderer Arzt neben seinem Bett steht und den Spezialisten entschuldigt, der habe heute leider keine Zeit. „Dann habe ich auch keine Zeit“, sagt Pranat, steht auf und packt seine Sachen. Plötzlich hat der Spezialist doch Zeit für ihn.

Er genießt verbotene Speisen in Maßen, weiß immer zu begründen, warum. Er spüre, was gut für ihn ist. Er kenne seinen Körper. Er reitet und fährt Motorrad. Er spielt mit dem Leben wie andere um Punkte. Denn eines ist sicher: Eine Verletzung des Shund-Arms ist tödlich. Der zarte Vogel Leben würde so hastig entwischen, dass keine Maschine der Welt schnell genug wäre, ihn zurückzuholen.

Eines Tages ist eine Niere für ihn da. Da ist er Mitte zwanzig. Die Hälfte seiner Zehnjahresfrist ist bereits verstrichen. Er muss sofort ins Krankenhaus. „Legen Sie sich erst einmal schlafen“, sagt die freundliche Schwester. „Die OP beginnt morgen früh 6.30 Uhr.“

„Ich sagte: ‚Aber die Niere ist doch schon da. Wieso erst morgen früh?‘ “ Die Schwester streitet das zunächst ab. Aber Pranat weiß, dass die Niere aus Westdeutschland kommt. Er weiß, dass die letzte Maschine, die Organe bringt, längst gelandet ist, und dass vor 6.30 Uhr am nächsten Morgen keine kommen wird. Andere Organe werden mit Sondermaschinen gebracht. Nieren nicht. Die Schwester muss zugeben, dass er Recht hat. Die Niere ist da. Nur sind alle Operateure nach Hause gegangen. Pranat besteht auf einer sofortigen Transplantation. Er weiß, dass Organe vom Liegen nicht frischer werden. Ein Chirurg wird gerufen, der die Operation noch in derselben Nacht durchführt.

Sein Körper stößt das Organ ab. „Als ich aus der Narkose erwacht bin und mir der Arzt das sagte, war ich glücklich. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich die Niere nicht gewollt hatte“, erzählt Pranat. „Das hat nichts mit meiner Haltung zur Transplantationsmedizin zu tun, überhaupt nicht. Es ist meine Entscheidung für meinen Körper.“

Ob er sich seit der Kindheit im Krankenhausalltag, später in der Dialyse so eingerichtet hat, dass ihm ein Stück Normalität verloren ginge, wenn er plötzlich frei und unabhängig wäre? Oder ob er nicht mehr die Kraft hat, sich auf eine neue medizinische Situation einzulassen – er kann die Frage nach dem Warum nicht beantworten. Es ist, wie es ist. Er hat sich entschieden. Er könnte innerhalb weniger Stunden eine weitere Niere bekommen, einen zweiten Versuch wagen. Die Chance, dass er gelingen würde, ist hoch. Er lehnt ab, fährt weiter zur Dialyse. Dreiundzwanzig Stunden pro Woche an der Maschine. Ein Halbtagsjob. Ein Halbtagsjob für Schwerstarbeiter. Eine Dialyse ist so anstrengend wie der Arbeitstag eines Bauarbeiters.

Immer wieder stößt Karlheinz Pranat auf das Unwissen der Leute. Er trifft aber auch Menschen, die mehr über Organspenden erfahren wollen und nicht wissen, wo sie sich informieren können. Man müsste raus auf die Straße, denkt er. Drüber reden. Das Transplantationsgesetz wird noch diskutiert, als sich Pranat 1995 mit seinem Projekt „Streetwork Organspende“ auf den Weg macht.

Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung finanzieren den Streetworker und arbeiten daran, sein Projekt bundesweit zu etablieren. Pranat bildet weitere Streetworker in anderen Städten aus. Doch kaum ins Rollen gebracht, bleibt die Aktion stecken. Die DSO darf nach Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes keine Öffentlichkeitsarbeit mehr bezahlen.

2000 kündigt auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung überraschend die Unterstützung – wenige Monate zuvor hatte man weitere Gelder für mehr Streetworker in Aussicht gestellt. Man erreiche auf anderen Wegen, zum Beispiel über Anzeigen, mehr Menschen, heißt es in der Begründung. Pranat vermutet andere Gründe. „Wir waren zu autonom. Wir hatten Ideen. Diese Sisyphusarbeit wurde denen zu anstrengend. Die machen eine medienwirksame Kampagne im Jahr, und dann ist wieder Ruhe.“

Karlheinz Pranat ist auf dem Weg nach Marzahn. Auf dem Rücksitz und im Kofferraum seines zitronengelben Fords liegen Kisten voller Broschüren, eine Infowand zum Ausklappen. Er wird sie im Foyer des Rathauses aufstellen. Der erste und letzte Streetworker Organspende wird heute vom Ärztlichen Direktor des Deutschen Herzzentrums, Professor Roland Hetzer, unterstützt. Der Arzneimittelkonzern Novartis sponsert das Berliner Projekt. Pranat schiebt die Stangen für die Infowand ineinander, spannt das Plakat darauf, stapelt Broschüren auf einem kleinen Tisch. Einige Leute schauen kurz herüber, gehen weiter.

Pranat macht sich auf den Heimweg. „Was ich mache, ist ein Fliegenschiss. Die BZgA hat in ihrer Öffentlichkeitsarbeit versagt. Ungefähr 70 Prozent aller Deutschen finden, dass Organspende eine gute Sache ist, aber nur zehn Prozent haben einen Spenderausweis. Und diese Zahlen sind seit Jahren unverändert. Da läuft doch was schief.“

Die Leute schauen eben weg, wenn es ums Sterben geht. Logisch. Pranat lässt sie den Kolibri im Arm spüren.