Die Unersättlichkeit der Musen

„Hoffmanns Erzählungen“ in noch nie gehörter Gestalt: Ein begeisternder Start in Klaus Pierwoß‘ letzte Spielzeit am Goetheplatz. Und ein Beweis für die umfassende Leistungsfähigkeit des derzeitigen Ensembles

„Das Werk gibt es eigentlich nicht, man muss es immer neu erfinden“, sagte einst der ehemalige Stuttgarter Intendant Klaus Zehelein. Nach und nach sind so viele Manuskriptteile aufgetaucht, dass es heute doch möglich ist, von „Hoffmanns Erzählungen“ eine Fassung zu zeigen, die dem Konzept des Komponisten entspricht. Wissen kann man es noch immer nicht, Jacques Offenbach ist 1880 über der Partitur gestorben.

Furios eröffnete jetzt Klaus Pierwoß mit den zuletzt gefundenen Teilen der „Fantastischen Oper“, jener für Adorno „ersten romantischen Oper mit einem modernen Sujet“, seine letzte Spielzeit. Andrej Woron inszenierte (Mitarbeit und Choreographie Jacqueline Davenport) das Werk mit der für ihn so typischen unbremsbaren Bildphantasie und Ausstattungslust, die aber in keiner Weise von der Tiefe der Aussage ablenkten. Neu gefundene Teile machen Offenbachs Idee klar: Die Muse, die Hoffmann als verkleideter Niklas scheinbar so fürsorglich begleitet, ist auf Seiten der Gesellschaft, die von Hoffmann ein Opfer fordert – das Leben scheitert, dann ist er bereit für die Kunst. „Er ist mein“, erkennt mit Zufriedenheit die Muse nach der dritten gescheiterten Liebesgeschichte.

Da ist erst die lungenkranke Sängerin Antonia, die von Mirakel und ihrer toten Mutter durch das Singen in den Tod getrieben wird, dann der Automat Olympia, die der Physiker Spalanzani als seine Tochter lebensnah geschaffen hat und am Ende die Kurtisane Giulietta, die Hoffmann sein Spiegelbild und damit seine letzte Autonomie und Identität raubt: „Der Mann ist nicht mehr, möge der Dichter neu geboren werden“, fasst die Muse zusammen.

Die mit riesigem Beifall aufgenommene Aufführung wurde wesentlich getragen durch zwei Hauptrollen: Hoffmann und die Muse, die in Mihai Zamfir und der stets präsenten Sybille Specht ergreifende Darsteller fanden. Zamfir hatte den Mut, sein persönliches Alter auch der Rolle zukommen zu lassen: kein strahlender Mann, sondern am Ende mit seinem Latein und seinem Leben, rückblickend von Anfang an. Auch gesanglich gelang ihm ohne jeglichen Einbruch Erstaunliches an Differenzierungen und Klangfarben.

Nicht weniger stark allerdings das Umfeld: Jennifer Bird als wahrlich berückende Antonia, Dunja Simic als Guilietta – gelegentlich etwas scharf in der Stimme –, die neu engagierte Schwedin Ingrid Froseth als Olympia, die durchdreht und auf einmal zum Angriff übergeht – auch diese Teile wurden noch nie gehört. Ivan Dimitrov in den vier Bösewichterrollen: Erstaunlich, wie beweglich der auf einmal sein kann. Karsten Küsters als Luther und Crespel – nichts zu meckern. Reichhaltige Akzente setzten noch Thomas Scheler in den vier Buffopartien und Wolfgang von Bories als Schlehmil.

Herrliche Bilder: wenn im Antonia-Akt Geigen und Kontrabässe aus dem Himmel kommen, wenn die Gesellschaft im Olympia-Akt mit urigen Puppen durchsetzt ist, wenn die bizarren Menschen sich in den venezianischen Gondeln um Giulietta herum zeigen, wenn Hoffmann in seiner verzweifelten Verwirrung versucht, die Namen „Antpia“ und Olymonia“ wegzuwischen.

Grandios ist auch der Text der abschließenden Apotheose – „Man wird groß durch die Liebe und größer noch durch die Tränen“ – umgesetzt: Hoffmann hat sich aufgelöst, er ist als Mensch verschwunden. Und Luthers Weinkeller ist „unser“ Theatro und die hintere Kulisse das Bremer Theater: ein zauberhafter Einfall, besonders im Hinblick auf den Abschied von Klaus Pierwoß. Florian Ludwig überzeugte mit den Bremer Philharmonikern wieder einmal, ein paar Wackler werden noch verschwinden. Ute Schalz-Laurenze