Das Überflieger-Klassenzimmer

Die private „Brecht-Grundschule“ in Hamburg ist deutschlandweit die erste Grundschule für hochbegabte Kinder. Englisch, Chinesisch und Philosophie stehen für die Schüler auf dem Lehrplan

VON LUCAS VOGELSANG

An den kleinen Tischen summen zwanzig Kinderstimmen durcheinander. Erster Schultag. Nach sechs Wochen Sommerurlaub mit den Eltern gibt es viel zu erzählen. Eine junge Frau mit einem Lächeln wie Honig sitzt im Hintergrund an ihrem Schreibtisch. Anja Messerschmidt ist die Schulleiterin der privaten Brecht-Grundschule. Die Hälfte ihrer vierzig Schüler sind Hochbegabte, die ihren Altersgenossen um Jahre voraus sind.

Vor einem Jahr startete die Schule ein Pilotprojekt zur Integration von Kindern wie Sven, der alles über Dinosaurier weiß, Serafina, die Geschichten schreibt seit sie vier ist oder Tobias, der schon lange vor der Einschulung lesen konnte und heute Jugendromane verschlingt.

Als die ungezwungenen Schilderungen der Ferienerlebnisse nahtlos in den Deutschunterricht übergehen, füllen sich die Hefte einiger Kinder schon mit fehlerloser Schreibschrift. Tobias ist als Erster fertig mit seinem Erlebnisbericht, er steht auf und hilft seinem Sitznachbarn, der Probleme mit der Rechtschreibung hat. „Die Kinder sollen das, was sie mehr können, in die Klassengemeinschaft einbringen“, sagt Anja Messerschmidt.

In der Brecht-Grundschule sitzen hochbegabte neben normal begabten Kindern. Eine pädagogische win-win Situation. „Beide Gruppen profitieren davon“, sagt Professor Trautmann von der Universität Hamburg, der zusammen mit einigen Studenten das Projekt wissenschaftlich überwacht. „Ein Hochbegabter bringt ein ganz anderes Niveau in eine Unterhaltung. Die Kinder lernen neue Worte oder erwerben beiläufig neues Wissen.“ Gleichzeitig können die Hochbegabten von den normalen Kindern aus ihren Sphären zwischen Andromeda-Nebel und Brachiosaurus geholt werden. Wenn der handelnde Pragmatiker auf den vorsichtigen Grübler trifft, werden oftmals Türen geöffnet, die ansonsten verschlossen blieben.

Nur zwei Prozent der Deutschen besitzen einen IQ jenseits der 130 und gelten als hochbegabt. Rasmus aus Tobias` Parallelklasse ist einer der Schüler, den die Tests der Psychologen als besonders begabt eingestuft haben. Rasmus ist fasziniert von Daten, Landkarten und Stadtplänen. Seit sein Vater ihm vor ein paar Jahren einen Abreiß-Kalender geschenkt hat, trägt er den Geburtstag von jedem Menschen ein, der ihm über den Weg läuft. In der Hitze des WM-Fiebers hat er damit begonnen, seine Datums-Sammlung um ein paar neue Zahlen zu ergänzen. Seitdem hat er die Geburtstage aller WM-Spieler notiert und sich durch sämtliche deutschen Ligen gepflügt. Heute fehlen ihm noch sechs Vereine aus der Regionalliga- Süd. Während Rasmus von dieser Arbeit erzählt, fährt er sich immer wieder durch seine braunen Haare. Später will Rasmus Schauspieler oder Musiker oder Journalist wie seine Eltern werden. „Aber eigentlich“, verrät er und grinst „alles zusammen.“

Schüler wie Sven, Tobias oder Rasmus, die sich schon im Kindergartenalter komplizierten intellektuellen Aufgaben widmen, Geschichten schreiben und als lebendige Rechenschieber mit Zahlen im siebenstelligen Bereich jonglieren, sind an normalen Schulen unterfordert, schnell gelangweilt und frustriert. Zudem machen ihr Wissensstand und eigentümliches Verhalten den gleichaltrigen Mitschülern oft Angst, da sie mit den scheinbar übermächtig allwissenden Mini-Einsteins und frühreifen Paläontologen nicht umgehen können. Die Folge: Sie werden ausgegrenzt, Einzelgänger, Problemfälle. „Es gibt drei typische Reaktionen auf Unterforderung“, sagt Anja Messerschmidt. „Entweder werden die Kinder verhaltensauffällige Klassenclowns oder sie ziehen sich in ihre eigene Welt zurück. Der schlimmste Fall ist jedoch, wenn die wirklich guten Schüler anfangen, mit Absicht Fehler zu machen, um nicht mehr aufzufallen.“

In der Klasse der Frau mit dem Honiglächeln ist einiges anders als im normalen Schulalltag. Die Schüler werden von „Jahrgangsteams“ bestehend aus sieben Lehrern und zwei Erziehern betreut. Ähnlich einer Dorfschule arbeitet jeder Schüler auf seinem speziellen Level. Während die anderen noch Namen nach dem Alphabet ordnen, ist Tobias im „Differenzierungsraum“, einem umfunktionierten Klassenzimmer für besondere Lerneinheiten, verschwunden. Die etwa zwanzig Quadratmeter sind ein Spieleparadies jenseits von bunten Plastikbällen und Fisher Price Rutschen. Die Kinder können hier zwischen verschiedensten Musikinstrumenten wählen. Tobias lernt hier seit einiger Zeit Flöte.

Auch im restlichen Schulalltag herrschen nahezu paradiesische Zustände, von denen Pädagogen an staatlichen Schulen nur träumen können. Es gibt keinen Frontalunterricht. Keine Klingel, die die Kinder in ein steifes Korsett aus zeitlichen Zwängen schnürt. Auf dem Gleitzeitstundenplan stehen dafür seit der ersten Klasse Englisch bei einer echten Engländerin und Philosophieunterricht bei Herrn Lundt, der die Kinder eine Schatztruhe mit den Fragen füllen lässt, die zwischen Differenzierungsraum und Schreibschrifttabelle keinen Platz finden. Nächstes Jahr, wenn Rasmus und die anderen in die dritte Klasse kommen, können sie Chinesisch als zweite Fremdsprache wählen.

Trotz dieses nicht ganz schulalltäglichen Angebots, sagt Anja Messerschmidt jedoch immer wieder, dass es sich bei der Brechtschule nicht um einen vergeistigten Elfenbeinturm handelt: „Wir betreiben hier keine Elitezüchtung.“ Der ständige Kontakt zu ihren gleichaltrigen Klassenkameraden trägt maßgeblich dazu bei, dass die Kinder ihre Bodenhaftung nicht verlieren. Zudem hat er einen positiven Nebeneffekt. „Fast beiläufig erlernen die Kinder wichtige soziale Kompetenzen wie Respekt oder Hilfsbereitschaft“, sagt Anja Messerschmidt. In erster Linie sollen die Hochbegabten jedoch Freundschaften knüpfen, um nicht zu weltfremden Stubenhockern zu verkommen. „Negativbeispiele von überdurchschnittlich intelligenten Kindern, die in der Grundschule zwei Klassen überspringen, mit elf schon in der achten Klasse sind, aber sozial den Anschluss verpasst haben, gibt es genug. Wir wollen vermeiden, dass die Kinder zu schnell ihre Kindheit verlieren“, sagt Anja Messerschmidt.