Lob der Unübersichtlichkeit

Der Charme der Geschichte ist gut versteckt: Sibylle Nägele und Joy Markert haben eine Hommage an die Potsdamer Straße geschrieben

Von der Potsdamer Straße hört man eigentlich nur, wenn im Döner-Krieg die Preise wieder um ein paar Cents gedrückt werden. Oder in der Staumeldung. Dass sich die täglichen Automassen aber durch historisch bewegtes Gebiet schleusen, dokumentiert ein Band, der sich die zum Teil mehr als zwei Jahrhunderte alten „Geschichten, Mythen und Metamorphosen“ der Potsdamer Straße vergegenwärtigt.

In diesem Band soll keine neue urbanistische Theorie aus der Taufe gehoben werden. Die beiden Autoren Sibylle Nägele und Joy Markert wollen stattdessen eine Archäologie der Straße betreiben und legen Schicht um Schicht ihrer Vergangenheit frei. Mit einer Leidenschaft, die sich auf große Vorbilder beruft, bringen die Autoren zum Vorschein, was sich hinter speckigen Fassaden verbirgt. Von Walter Benjamin, der Teile seiner Kindheit an der Potsdamer Straße verbracht hat, haben sie sich das Prinzip des urbanen Flaneurs geborgt, der ein passionierter Beobachter und Sammler ist.

Die Fülle des Materials, das Nägele und Markert auf über vierhundert Seiten zusammengetragen haben, scheint sie selbst ein ums andere Mal zu erstaunen. Erzählerische Passagen wechseln sich mit Aufzählungen prominenter Bewohner und bedeutender Ereignisse ab. Gedichte von Chamisso und Eichendorff stehen als historischer O-Ton ehemaliger Bewohner neben denen von Schöneberger Schülerinnen heute. Zusammen mit den zahlreichen Photos entsteht auf diese Weise ein Bild der Straße, das gerade in seiner Unübersichtlichkeit dem Eindruck nahekommt, der sich beim heutigen Spaziergänger einstellt, wenn er vom Potsdamer Platz aus in Richtung Süden geht: Vorbei an einer Mischung aus Pfennigläden, Migrantenunterkünften und Cocktailbars, begleitet vom stetigen Lärmpegel des Verkehrs.

Dabei hat die Geschichte, die Nägele und Markert über die Potsdamer Straße erzählen, beschaulich begonnen. Die Wiesen, die rund um den Landwehrkanal am oberen Ende der Straße lagen, standen regelmäßig unter Wasser. Am unteren Ende, auf dem Gelände des heutigen Kleistparks, befand sich bis 1907 ein Botanischer Garten. Fast 8.000 exotische Pflanzenarten wurden hier den Berliner Ausflüglern präsentiert.

Was als grüne Oase begonnen hatte, entwickelte sich bis in die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts zum intellektuellen und medialen Zentrum Berlins. Der Sportpalast wurde ab 1910 zum Raum für Musik- und Sportevents – und in den dreißiger und vierziger Jahren zum wenig rühmlichen Ort nationalsozialistischer Propagandaveranstaltungen. Der Ernst Rowohlt Verlag mit seinem Lektor Franz Hessel bezog 1919 Quartier in der Potsdamer Straße. Der S. Fischer Verlag hatte seinen Sitz in der benachbarten Bülow-, später in der Lützowstraße. Die erste öffentliche Rundfunksendung wurde 1923 im Vox-Haus in der Potsdamer Straße produziert. Und natürlich florierte auch ein anderes Gewerbe hier, das Nägele und Markert unter dem Stichwort Vergnügung fassen: der Handel mit Frauenkörpern und Drogen.

So wird auch hier einmal mehr der Mythos der „Roaring Twenties“ durchdekliniert. Im Gegensatz zu den bekannten kulturwissenschaftlichen Texten über Berlin gelingt den beiden Autoren in ihrem Band allerdings das Kunststück, die Geschichte der Großstadt bis in die Gegenwart hinein als Kiezgeschichte zu erzählen, in der die Episode über den Optiker nebenan genauso Platz findet wie kleine Mythen dieser Straße. So soll den Kasseler-Braten, wer hätt’s gewusst, ein an der Potsdamer Straße ansässiger Metzger erfunden haben.

Ein paar Überbleibsel dieses Charmes, den das Buch herbeizitiert, sind derzeit im Haus am Kleistpark zu sehen. Aufnahmen des legendären Frauenprojekts „Pelze“, Photos von Nick Cave, der in den achtzigern Jahren im besetzten Haus in der Potsdamer Straße 157/159 aufgetreten ist, bilden mit eigens über die Potsdamer Straße entstandenen Arbeiten eine kleine Begleitausstellung, die bei aller Kiezverbundenheit so gar nichts von der trostlosen Angestaubtheit hat, die man zuweilen in Stadtteilmuseen findet.

Schöneberger werden diese Hommage an die Potsdamer Straße lieben. Wer allerdings als Ortsunkundiger die Potsdamer Straße entlang flaniert, wird ein bisschen suchen müssen, bis er den hier beschworenen Faszinationswert der Straße entdeckt. Szeneleben sucht man hier vergebens. Aber ein Döner zum Dumpingpreis ist auch nicht zu verachten. WIEBKE POROMBKA

Sibylle Nägele und Joy Markert: „Die Potsdamer Straße. Geschichten, Mythen und Metarmorphosen“. Metropol Verlag, Berlin 2006, 408 Seiten, 201 Abbildungen, 19 €. Begleitausstellung: bis 24. September, Di.–So., 11 bis 17 Uhr, Haus am Kleistpark