Die sechs Nobel-Männer

NOBELPREISE Der diesjährige Nobelpreisreigen begann mit einem kleinen Eklat. Noch bevor am Montag das Preiskomitee den Auserwählten für die Sparte Medizin offiziell bekannt geben konnte, verkündete die schwedische Zeitung „Svenska Dagbladet“ bereits, dass der „Vater der Retortenbabys“, Robert Edwards, den Medizinnobelpreis bekommen wird. Nicht geklärt ist, ob ein Mitglied des Nobelpreiskomitees vorzeitig geplaudert oder die Zeitung nur gut geraten hat. Beim Komitee wird jetzt jedenfalls erst mal geprüft, ob es eine undichte Stelle gab.

Robert Edwards, der Vater der Retortenbabys, konnte die Glückwünsche des Nobelpreiskomitees nicht selbst annehmen. Der 85-jährige Nobelpreisträger für Medizin 2010 Robert Edwards ist gesundheitlich schwer angeschlagen und lebt in einem Seniorenheim. 32 Jahre ist es jetzt her, dass der britische Biologe Edwards zusammen mit dem Gynäkologen Patrick Steptoe dem ersten künstlich befruchten Baby zum Leben verhalf. Für diese Pionierarbeiten wurde Edwards jetzt ausgezeichnet.

Louise Brown, das erste Retortenbaby, wurde am 25. Juli 1978 geboren. Mittlerweile ist sie selbst schon Mutter. Die beiden Forscher läuteten mit dem ersten Retortenkind eine neue Ära in der Reproduktionsmedizin ein. Patrick Steptoe, mit dem Edwards später ein gemeinsames reproduktionsmedizinisches Institut gründete, verstarb schon Ende der 1980er Jahre. Würde er heute noch leben, hätte er sicherlich auch die Nobel-Auszeichnung erhalten.

Dass es so lange gedauert hat, bis die Entwicklung der künstlichen Befruchtung mit dem Nobelpreis gewürdigt wurde, begründet das Stockholmer Komitee damit, dass es viele Jahre nicht klar war, ob die durch künstliche Befruchtung gezeugten Kinder auch tatsächlich gesund sind. Geschätzt wird, dass weltweit mittlerweile rund vier Millionen Kinder mit Hilfe der künstliche Befruchtung gezeugt wurden.

Angetreten war Robert Edwards schon in den 1950er Jahren, um unfruchtbaren Eltern den Kinderwunsch zu erfüllen, wie er im Laufe der Zeit immer wieder betonte. Ursprünglich hatte er die Entwicklung und Reifung der Eizellen von Mäusen studiert. Später wandte er die dabei gewonnen Erkenntnisse am Menschen an.

So gelang ihm zwar 1969 erstmals eine menschliche Eizelle im Reagenzglas zu befruchten, doch bis sich daraus auch das erste IVF-Baby entwickelte, dauerte noch einige Jahre. Dazu war er auch auf die Kenntnisse und Zusammenarbeit mit seinem späteren Geschäftspartner Patrick Steptoe angewiesen. Vor allem in den ersten Jahren waren Edwards Forschungen heftig umstritten. Selbst viele seiner Wissenschaftlerkollegen mieden den Kontakt mit ihm, weil sie seine Ziele nicht guthießen. Auch musste er sich sich zur Entwicklung der In-vitro-Fertilisation (IVF) private Geldgeber suchen. Der britische Medical Research Council (MRC) verweigerte aus ethischen Gründen die finanzielle Förderung seiner Arbeiten. Vor kurzem erst wurden die abschlägigen MRC-Bescheide aus dem Jahr 1971 in einer Fachzeitschrift öffentlich gemacht, fast termingerecht zur Verkündung des Nobelkomitees.

Heute werden die IVF-Vorreiter von fast allen Seiten fast gefeiert. Lediglich der Vatikan „rügte“ die Entscheidung des Nobelkomitees zugunsten Edwards. Ein spezielles Problem war, dass vor allem in den frühen Jahren zu viele befruchtete Eizellen auf die Frau übertragen wurden. Um belastende Mehrlingsschwangerschaften zu vermeiden, wurde der Fetozid eingeführt. Die überzähligen Embryonen wurden durch die Bauchdecke der schwangeren Frau mit einer Kochsalzlösung totgespritzt.

In Deutschland wurde übrigens das erste IVF-Kind erst 1982 geboren, am Universitätsklinikum Erlangen. Seitdem hat sich im Bereich der Reproduktionsmedizin viel getan. So hat bei der IVF fast schon routinemäßig die sogenannte ICSI-Methode Einzug gehalten. Dabei wird ein einzelnes Spermium ausgesucht und mittels einer spitzen Kanüle in die Eizelle eingeführt.

Umstritten ist auch die sogenannte Präimplantationsdiagnostik (PID), die erst mit der von Edwards und Steptoe entwickelten Methode möglich geworden ist. Dabei werden die Embryonen ausgewählt, aus der sich dann später einmal Kinder entwickeln dürfen. Die aussortierten Embryonen werden verworfen oder der Forschung zur Verfügung gestellt. Befürchtet wird, dass der Embryonencheck zunehmend dazu genutzt wird, Designerkinder in die Welt zu setzen.

WOLFGANG LÖHR

„Es ist ein Schock“, sagte Konstantin Novoselov über die Entscheidung des Nobelkomitees, dass er und Andre Geim den diesjährigen Physik-Nobelpreis bekommen. Gemeinsam produzierten sie Graphen– einen Wunderstoff, der die Technologie der Zukunft möglich machen soll. Novoselov ist erst 36 Jahre jung und damit der jüngste Physiknobelpreisträger seit 1973. Wie sein Doktorvater Andre Geim wurde Novoselov in der ehemaligen Sowjetunion geboren. Während Novoselov britisch-russischer Staatsbürger ist, ist Geim Niederländer. Zurzeit arbeiten beide an der University of Manchester.

„Ich hoffe, dass Graphen unser Leben genauso verändern kann wie Plastik“, erklärte Geim. Dabei scheint Graphen auf den ersten Blick gar nicht so aufregend zu sein: Es besteht lediglich aus einer sehr dünnen Lage Graphit – dem Stoff, aus dem die Bleistiftmine besteht. Doch seit geraumer Zeit wurde immer wieder versucht, Graphit in extrem dünne Schichten aufzuspalten. Denn ein Material mit einem derart einfachen Aufbau verspricht interessante Eigenschaften. Graphen besteht nur aus einer einzigen Lage von Kohlenstoffatomen. Sie sind in Form von Sechsecken angeordnet und bilden ein ebenes Gitter, das einem Kaninchendraht ähnelt.

Jahrelang schlugen alle Versuche zur Herstellung von Graphen fehl. Zunächst nutzten die meisten Laboratorien Ruß als Ausgangsstoff. Doch im Jahr 2004 zersplitterten Geim und Novoselov stattdessen Graphit. Dann nahmen sie ein Klebeband, bogen es mit der klebenden Seite um einen Bruchsplitter herum und zogen das Band wieder glatt. Dabei wurde der winzige Kristall in zwei Teile gespalten. Je öfter die Forscher den Vorgang wiederholten, desto flachere Plättchen erhielten sie. Schließlich drückten die Forscher das Klebeband mit den daran hängenden winzigen Bruchstücken behutsam auf einen Silizium-Wafer. Nachdem das Band gelöst wurde, blieben winzige Plättchen zurück. Als die Forscher die dünnsten untersuchten, stellten sie fest, dass die Plättchen nur aus einer einzigen Lage von Kohlenstoffatomen bestanden. Sie hatten Graphen hergestellt.

Diese Entdeckung löste einen Begeisterungssturm aus. Denn Graphen verfügt über viele neue Eigenschaften. Es ist nicht nur das dünnste Material, sondern auch äußerst hart – es übertrifft sogar Stahl. Zugleich ist es höchst zugfest und biegsam. Das Gerüst aus Kohlenstoffatomen lässt sich um ein Fünftel seiner Länge strecken, ohne Schaden zu nehmen. Das Material ist nahezu durchsichtig und zugleich so dicht, das es nicht einmal das kleinste Gasatom durchlässt.

Graphen leitet hervorragend elektrischen Strom: Elektronen sausen mit einer Geschwindigkeit von einer Million Meter pro Sekunde hindurch. Mit Hilfe von Graphen ist es deshalb möglich, auch ungewöhnliche Quantenphänomene zu untersuchen, die sonst nur unter extremen Bedingungen beobachtbar sind – etwa in Hochenergie-Beschleunigern oder in Schwarzen Löchern. Neben Strom leitet Graphen auch Wärme ausgesprochen gut.

Weltweit untersuchen Wissenschaftler derzeit, ob sich Graphen zum Bau superschneller Transistoren oder Quanten-Computer eignet. Auch könnte Graphen zu extrem empfindlichen Messfühlern führen, die so gar einzelne Moleküle aufspüren. Da Graphen durchsichtig ist und zugleich elektrischen Strom leitet, könnte es sich für transparente Touchscreens oder Solarzellen eignen. Kombiniert mit anderen Materialien wie etwa Kunststoffen, könnte Graphen zu superstarken Verbundwerkstoffen führen, die den Satelliten-, Flugzeug- und Autobau revolutionieren würden. Die Liste der Einsatzmöglichkeiten ist lang und es steht zu erwarten, dass Graphen viele Dinge unseres Alltags verändern wird. Doch bis es so weit ist, wird wahrscheinlich noch einige Zeit vergehen. Denn die Geschichte hat gezeigt, dass Entdeckungen zumeist mehrere Jahre brauchen, bis sie praktisch genutzt werden.

CLAUDIA BORCHARD-TUCH

Für die Genres Malerei oder Bildhauerei gibt es zwar keinen Nobelpreis, trotzdem sprach die Akademie in Stockholm von „großer Kunst“, als sie den Chemiepreis begründete. Preisträger sind die US-Amerikaner Richard Heck und die beiden Japaner Ei-ichi Negishi sowie Akira Suzuki. Die drei Wissenschaftler experimentieren seit Jahren mit der sogenannten palladiumkatalysierten Kreuzkopplung in organischen Synthesen. Mit diesem Verfahren können nun Kohlenstoffatome neu zusammengesetzt werden.

Sowohl in der Entwicklung neuartiger Medikamente, zum Beispiel gegen Krebserkrankungen, als auch in der Kunststoff- und der Elektronikindustrie wird das Verfahren zur Anwendung kommen können. Palladium, ein dem Platin ähnliches, sehr seltenes Edelmetall, wird schon längere Zeit als Katalysator verwendet. Es kann dazu beitragen, Wasserstoff und Sauerstoff aus organischen Verbindungen zu lösen oder in sie einzubinden. Am bekanntesten ist die Verarbeitung in Abgaskatalysatoren bei Kraftfahrzeugen.

Durch das von den drei Preisträgern entwickelte Verfahren können nun aber völlig neue Kohlenstoffverbindungen kreiert werden. „Das ist so etwas wie ein Werkzeug, das erfunden worden ist. Die haben also Hammer und Nagel erfunden, was sie damit an die Wand hängt, muss die Industrie dann entscheiden“, erklärte Alois Fürstner vom Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr.

Tatsächlich hat nach eigenen Aussagen Ei-ichi Negishi bewusst kein Patent auf seine Forschungsergebnisse angemeldet. „Es sollen sich möglichst viele Menschen frei fühlen, nach sinnvollen Anwendungen dieser Forschungsergebnisse zu suchen“, erklärte er nach der Bekanntgabe der Juryentscheidung.

Sinnvolle Anwendungen gibt es in vielen Bereichen. Inzwischen wird die palladiumkatalysierte Kreuzkopplung bei der Produktion von Sonnencremes genauso angewandt wie bei der Herstellung von Flüssigkristallen für Displays und Leuchtdioden. Für die Medizin interessant ist die Möglichkeit, das Gift des Schwamms Discodermia dissoluta massenhaft herzustellen. Diese Substanz wirkt in geringen Dosen gegen Bakterien, Viren und sogar gegen Krebszellen. Letztlich ermöglicht das Verfahren der drei Wissenschaftler, beliebige organische Verbindungen, die bisher nur die Natur hervorbrachte, nachzubauen. Die Sekretärin des Nobelkomitees für Chemie, Astrid Gräslund, benutzte dazu einen bildlichen Vergleich. „Vor meinem inneren Auge sehe ich ein gigantisches Modell aus Lego-Klötzen. Man weiß, was man bauen will. Aber es ist nicht so leicht, die Klötze richtig zusammenzusetzen. Die drei haben fantastisch feine und genaue Kontrollmöglichkeiten für ihre Bausätze entwickelt, um die richtigen chemischen Reaktionen zu bekommen.“

Im Gegensatz zu den noch sehr jungen diesjährigen Physik-Preisträgern forschten die drei Chemiker bereits in den 1970er Jahren an ihren Projekten. Der 79-jährige Richard Heck erkannte bereits vor knapp 50 Jahren erste grundlegende Zusammenhänge, die die weitere Forschung an der palladiumkatalysierten Kreuzkopplung ermöglichten. Bis zu seiner Emeritierung war er an der Universität im US-Bundesstaat Delaware tätig. Der vier Jahre jüngere Negishi forscht und lehrt noch heute an der Purdue University in Indiana, USA. In Japan geblieben ist der inzwischen 80 Jahre alte Akira Suzuki, und zwar an der Hokkaido-Universität in Sapporo.

Besondere Verbindung zu deutschen Forschern hatte in der Vergangenheit Ei-ichi Negishi. 1997 erhielt er bereits den Humboldt-Forschungspreis und war daraufhin Gast an der Uni Göttingen und an den Technischen Hochschulen Berlin und München. Die Humboldt-Stiftung wies nun in einer Presseerklärung darauf hin, dass Negishi seine Forschungen, die ihm nun den Nobelpreis einbrachten, zu einem guten Teil in Deutschland getätigt habe. LUTZ DEBUS