TARIK AHMIA ÜBER DAS URTEIL GEGEN JÉRÔME KERVIEL
: Einzeltäter im Finanz-Casino

Schuldig in allen Punkten der Anklage“ lautet das Urteil eines Pariser Gerichts gegen Jérôme Kerviel. Der ehemalige Wertpapierhändler der französischen Großbank Société Génerale soll im Alleingang den größten Spekulationsverlust der Geschichte eingefädelt und durchgeführt haben. Dafür haben ihn die Richter zu fünf Jahre Haft und einem Schadenersatz von 4,9 Milliarden Euro verurteilt.

Die groteske Höhe der Wiedergutmachung, die Kerviel leisten soll, ist symptomatisch für die Realitätsferne des Richterspruchs: Jahrelang soll der Händler riskante Wetten über 50 Milliarden Euro angehäuft haben, ohne dass einer seiner Arbeitgeber davon etwas mitbekommen haben will. Dabei belegen die Aussagen von Kerviels Vorgesetzten während der dreiwöchigen Verhandlung, dass die Aufsicht innerhalb der Traditionsbank von einer Kultur des Wegschauens geprägt war. Solange die Gewinne der Wertpapierhändler stimmten, hakte niemand ernsthaft nach. Aber auch wenn Kerviel seine Chefs belogen hat, überzeugt die alleinige Schuldzuweisung nicht. Es fehlt ein stichhaltiges Motiv, da sich der Händler persönlich nicht bereichert hat. Ein Indiz für die Fahrlässigkeit und Mitschuld der Société Génerale sind die umfangreichen Kontrollen, die die Bank einführte, nachdem der Coup aufgeflogen war: 100 Millionen Euro hat die Bank seitdem in den Umbau ihres Kontrollsystems gesteckt und eine neue Aufsichtsabteilung mit 600 Mitarbeitern gegründet.

Die Pariser Richter haben den Handlanger Jérôme Kerviel zum Sündenbock gemacht. Damit ist ihr Urteil symptomatisch für die Konsequenzen, die bislang aus der Finanzkrise gezogen wurden: Geht beim Glücksspiel im globalen Finanz-Casino einmal etwas schief, pickt man sich Prügelknaben heraus. Das kranke System bleibt bis heute im Kern unangetastet.

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