Eine wahre Geschichte

PORTRÄT Der Österreicher Erich Hackl begreift sich als Chronist der Verfolgung. Mit „Familie Salzmann“ erzählt er eine Geschichte, die vom antifaschistischen Widerstand, Konzentrationslager bis in die Gegenwart der Alpenrepublik reicht. Hackl spricht von den braunen Abgründen Österreichs, aber auch von denjenigen Menschen, die anders sind

Er wollte keinen richtigen Roman schreiben, sondern eine wahre Geschichte erzählen – Autoren, die historische Wirklichkeiten neu erfinden, lehnt er ab

Von RALF LEONHARD

Wenn man mit politischem Anspruch schreibe „und politisch geht alles in die verkehrte Richtung, dann wird einem der Boden unter den Füßen weggezogen“. Erich Hackl spielt damit nicht allein auf die prognostizierten Zugewinne der rechtsextremen FPÖ an. Ihr werden bei den an diesem Wochenende stattfindenden Gemeinderatswahlen in Österreichs Hauptstadt Wien 25 Prozent der Wählerstimmen prognostiziert. Er zielt eher auf eine seiner Meinung nach allgemeine und gesamtgesellschaftlich negative Entwicklung. Deswegen sei er verzagt: „Ich weiß nicht ob‘s weitergeht“.

Und dies bezieht er auch ganz allgemein auf sein literarisches Schaffen. Obwohl seine Bücher großteils mit hymnischen Rezensionen gefeiert werden, er bei einem angesehenen Verlag wie Diogenes in der Schweiz publiziert, sei er sich keineswegs sicher, ob das, was er zu sagen habe, überhaupt gelesen werden will. Hackl scheint jedenfalls kein aggressiver, ständig von sich und der Welt überzeugter Verkäufer seiner selbst.

In seinem nun erschienenen Buch „Die Familie Salzmann“ greift er wieder einmal die Geschichte von Menschen auf, die verfolgt werden, die Ungerechtigkeit erleiden. Es beginnt und endet mit Hanno Salzmann, einem Angestellten einer Krankenkassa in Graz, der von Kollegen gemobbt wird, nachdem er einem erzählt hat, seine Großmutter sei im KZ umgekommen. Der Schluß, Salzmann – der Name suggeriert es ja – müsse Jude sein, liegt nahe. Das ist auch im Österreich des späten 20. Jahrhunderts in Hackls Geschichte Grund genug, den Mann zu schneiden und zu schikanieren. Obwohl er Opfer und nicht Täter ist, verliert er deswegen sogar seinen Posten.

In Wahrheit sind die Salzmanns keine Juden. Verfolgt wurden sie als Kommunisten und Widerstandskämpfer gegen das Nazi-Regime. Der 56jährige Hackl geht der Geschichte der Familie seit der Generation der Urgroßeltern in der Steiermark nach, recherchiert sie über das bayerische Bad Kreuznach und das Exil in Paris bis ins KZ Ravensbrück. Das Buch schildert den gescheiterten Versuch, im Realsozialismus der DDR Fuß zu fassen, und – nach der „Republikflucht“ – die Rückkehr in die österreichische Steiermark.

In Deutschland, so Hackl, beschränke sich der erinnerte Widerstand gegen die Nazis „auf Stauffenberg und Weiße Rose“. Er habe hingegen versucht, „die Weite des Widerstands darzustellen“.

Typisch für den deutschen Umgang mit dem kommunistischen Widerstand findet er, dass Hannos Großvater Hugo Salzmann in Bad Kreuznach zwar mit einer nach ihm benannten Straße geehrt worden sei. „Aber,“ so fragt der Autor beim Treffen in Wien, „warum steht zur Begründung nur, dass er nach 45 den Kampf gegen das Vergessen geführt hat? Warum nicht, dass er Stadtverordneter der KPD war?“

Der Autor Erich Hackl identifiziert sich mit seinen Protagonisten, auch wenn er nicht mit allen ihren Handlungen und Meinungen einverstanden ist. „Der Trick des Mobbing ist ja, dass das immer mit Vereinzelung auf Seiten des Gemobbten verbunden ist,“ sagt er. Das Mobbingopfer bekomme so das Gefühl, es selbst würde „nicht richtig funktionieren“. Daher verdiene es Solidarität. Hackl: „Vielleicht ist das mein heimliches Thema: der Versuch, der Vereinzelung derer, die verfolgt wurden und Widerstand geleistet haben, etwas entgegenzusetzen“.

Das Wichtigste sei, „dass ein Autor Anteil nimmt“, dann könne auch der unbekannte Leser diesen Anteil nehmen. Aber: „Das Wichtigste ist, dass ich schreibe, nicht dass es gelesen wird“.

Für die Recherche zu seiner Erzählung stützte sich Erich Hackl auf die Erinnerungen der noch lebenden Salzmanns, auf Briefe, Stadtchroniken und andere Dokumente. Das brachte eine enge, oft jahrelange Zusammenarbeit mit Zeitzeugen oder Betroffenen mit sich, aus der auch Freundschaften entstanden. Wo es Lücken gibt, erfinde er nicht, sondern bekenne sich zur Lücke und behelfe sich mit Formulierungen wie „es könnte sein“, „möglicherweise“ oder „man kann vermuten“.

Er wollte keinen Roman schreiben, sondern eine wahre Geschichte erzählen – wie in praktisch allen seinen Büchern. Autoren, die Wirklichkeiten neu erfinden, lehnt er ab: „Wenn man das Ziel hat, etwas zu denunzieren und gegen konkretes Unrecht anzuschreiben, finde ich das tatsächlich unseriös“.

Historische Romane, in denen Menschen, die es tatsächlich gegeben hat, Aussagen in den Mund gelegt werden, findet er schrecklich: „Reale Figuren mit erfundenen Geschichten zu mischen, ist völliger Schwachsinn, eine Literatur, die mich ärgert. Das Dokumentarische ist dann nur dazu da, um einer willkürlichen Fiktion Plausibilität zu geben“. Solche Romane, so Hackl, seien „ein Genre der Niederlage und der Sklavensprache“. Auch den großen peruanischen Romancier Mario Vargas Llosa lässt er nicht ungeschoren: „Vargas Llosa ist ein Exempel für diese verabscheuenswürdige Literatur“. In seinem Roman „Das Fest des Ziegenbocks“ über den dominikanischen Diktator Rafael Leónidas Trujillo nehme er sich Freiheiten heraus, „die ich mir nicht herausnehmen würde“.

Hackl, selbst studierter Hispanist, kennt sich in Lateinamerika und lateinamerikanischer Literatur bestens aus. Mit mehreren zeitgenössischen Autoren, deren Werke er übersetzt hat, ist er auch befreundet. Besonders in Argentinien hat er viel recherchiert. Seine Bücher „Sara und Simón“ und „Als ob ein Engel“ befassen sich mit dem Schicksal von Verschwundenen während der Militärdiktatur.

Seine literarischen Vorbilder sieht Erich Hackl aber weniger in Lateinamerika als in Deutschland: Johann Peter Hebel, Heinrich v. Kleist, Anna Seghers, Bert Brecht, Guntram Vesper. Und in der polnischen Reporterin Hanna Krall, die nicht nur ähnlich dokumentarisch schreibe, sondern auch ähnliche Themen bearbeite, „zum Beispiel über jüdische Kinder, die während der Nazizeit ihrer Identität beraubt wurden, weil man sie einer katholischen Mutter untergeschoben hat“.

Schon seine ersten literarischen Gehversuche in der oberösterreichischen Industriestadt Steyr führten Erich Hackl in die unbewältigte NS-Vergangenheit. Er spürte da einer von den Nazis erschlagenen Rotkreuzschwester nach, die russischen Zwangsarbeitern geholfen hatte. Bei ihren überlebenden Gefährten war er zu seiner Überraschung auf eine Mauer des Schweigens gestoßen: „Zunächst war da großes Misstrauen, denn da kam jemand von außen, das konnte nur jemand sein, der Ihnen Übles wollte“.

Die antikommunistische Stimmung in der Bevölkerung sei so groß gewesen, dass niemand über seine Vergangenheit reden wollte. Ein Jahrzehnt später stieß der inzwischen arrivierte Autor bei seinen Recherchen für „Abschied von Sidonie“ auf ähnliche Ablehnung bei den Roma: „Da saß die ganze Sippe wie aufgefädelt und ist mir immer ausgewichen. Denn Zigeuner waren damals als verfolgte Minderheit noch nicht anerkannt“.

Vom Schicksal seiner Protagonistinnen und Protagonisten könne man aber nicht unmittelbar auf die politische Lage im heutigen Österreich schliessen. Er sei „kein Intellektueller,“ sagt Hackl, „der das einordnen kann in das Panorama eines Landes oder eine Gesellschaft“. Doch die politische Entwicklung gehe nunmal in eine andere Richtung als für ihn als engagierten Autor wünschenswert.

Erich Hackl: „Familie Salzmann. Erzählung aus unserer Mitte“. Diogenes, Zürich 2010, 192 St., Euro 19.90