Ist die deutsche Literatur zu brav?
JA

GÄHN Deutschen Autoren fehlt Wagemut, heißt es in den Feuilletons. Statt neuer Diskurse produzierten sie oft nur konformistischen Einheitsbrei. Wirklich?

Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt.

Immer ab Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz.

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Joachim Masannek, 53, ist Kinderbuchautor und Regisseur von „Die Wilden Kerle“

Ich kann aus meiner Erfahrung als Autor sagen, dass es vielen Verlegern einfach am Mut zum Risiko fehlt. Oder, halt – nein. Es sind die Vertriebsleiter, die die Macht in den Verlagen übernommen haben und die angesichts der Krise auf dem Buchmarkt – E-Book und schwindende Verkaufsflächen – jede Voraussetzung für Visionen zu verlieren drohen. Als Autor lernt man schnell, dass der Satz „Ich muss daran glauben!“ eine grundlegende Voraussetzung ist, um ein Buch schreiben zu können. Doch bei den Vertriebsmenschen wird aus dem „daran“ ein „dran“, und keiner will wegen eines Buchs „dran glauben“ müssen. Deshalb vermeiden sie Fehler und Fehler vermeiden heißt in erster Linie: nichts riskieren. Man macht alles so, dass man im Falle eines Misserfolgs sagen kann: Man hat nichts falsch gemacht. So verwandelt man sich – sehr wahrscheinlich, ohne dass viele es so wahrnehmen oder zugeben würden – unter dem Schein großen Verantwortungsbewusstseins in ein Opfer, dem Lieblingsschimpfwort meiner Kinder. Und Opfer haben keine Visionen.

Maximilan Schulz, 20, ist taz-Leser. Er hat den sonntaz-Streit per E-Mail kommentiert

Was soll man erwarten von einer Generation aus Zweiflern und Warmmachern, die lieber Kritik an der Kritik üben, anstatt etwas selbst in die Hand zu nehmen. Bloß: Was sollen wir tun, wenn sich die Vorzeichen umgekehrt haben, wenn das Krasse zum Langweiligen geworden ist? Was soll da noch kommen? Selbst wenn da mehr wäre – diejenigen, die etwas zu erzählen hätten, sagen nichts. Ihnen geht es wahrscheinlich wie mir mit diesem Kommentar. Warum etwas schreiben, wenn es eh verpufft und wenn es andere besser können! Zweifel. Zweifel. Zweifel. Bringen tut das nichts. Seid ehrlich mit euren Geschichten, schreibt sie um ihrer selbst Willen. Vor allem: macht! Denn Machen ist die beste Medizin. Nur dann kann etwas werden. Oder eben nicht. Es zu versuchen ist trotzdem die einzige Möglichkeit.

Maximilian Lipski, 17, Schüler und taz-Leser, hat den Streit per E-Mail kommentiert Die deutsche Literatur ist so langweilig, weil sie stagniert. Noch bevor sich das Interesse am Schreiben entwickeln kann, wird bewertet, ob ein Kind gut oder schlecht ist. Wer im Deutschunterricht eine schlechte Note bekommt, verliert die Lust am Schreiben. Seine Kreativität wird im Keim erstickt. Die sogenannten Erlebnisgeschichten folgen immer festen Vorgaben: Einleitung, Hauptteil, Schluss und der Höhepunkt in der Mitte. Warum darf mein Höhepunkt nicht am Ende stehen? Warum darf meine Geschichte nicht zwei Höhepunkte haben? Ich kenne keinen berühmten Autor, der einen Höhepunkt im Präsens geschrieben oder im Unterricht verteufelte Worte wie „sagen“, „reden“, „denken“ nicht exzessiv benutzt hat. Kunst ist subjektiv und wir geben ihr objektive Regeln. Das ist eine Antithese in sich. Querdenken ist nichts Schlechtes – oder erzählt Hermann Hesse in „Unterm Rad“ mehr Wahres als wir denken?

Marcel Reich-Ranicki, 1920–2013, einer der wichtigsten Literaturkritiker Deutschlands

Bei der Erwartung einer neuen deutschen Literatur ist man wie am Anfang eines Walzers: man hört das Hm-ta-ta, Hm-ta-ta, und man fragt sich: Wann kommt denn nun endlich die Melodie?

Aus Reich-Ranickis Danksagung zum Rednerpreis der Zeitschrift Cicero, mit dem er 1996 in der Kategorie Kultur ausgezeichnet wurde.

NEIN

Frank Schirrmacher, 54, ist Mitherausgeber der FAZ und Buchautor

Nicht die deutsche Literaturszene ist zu brav, sondern die deutsche Literaturkritik. Ein bisschen mehr von der Bosheit, die die Branche doch so perfekt hinter den Kulissen beherrscht, auf die Bühne, dorthin, wo sie nicht nur die Happy Few beim Kriti-kerempfang genießen können. Dann wissen die Schriftsteller wieder, dass sie mitspielen.

Stephan Porombka, 46, ist Professor für Texttheorie und Textgestaltung

Die Literatur kann ja gar nicht anders als brav sein. Die Verpflichtung auf Buch und Buchstaben zwingt medial, ökonomisch und mental zur Langsamkeit. Während in den anderen Künsten seit Jahrzehnten atemberaubende Experimente zur Beobachtung und Herstellung von Gegenwart stattfinden, operiert der ganze Literaturbetrieb mit einem stabilen Repertoire. Legt man nur mal die Texte nebeneinander, die in all den Jahren zum Bachmannpreis in Klagenfurt oder zum Open Mike in Berlin gelesen worden sind, lassen sich nur minimale Verschiebungen ausmachen. Ich tippe auf etwa dreieinhalb Prozent. Das entspricht dem, was man als Kleinsparer bekommt, wenn man mit dem kulturellen Kapital, das man von den Eltern erbt, weder Verluste riskieren noch Gewinne erzielen will. Es reicht für ein schönes Bücherregal im Reihenhaus am Rande des wilden Lebens. Toll ist das sicher nicht. Aber wenn man damit zufrieden ist, ist es natürlich okay.

Anna Basener, 30, ist selbstständige Groschenromanautorin und lebt in Berlin

Wer sucht, findet ganz sicher schnell belletristische Publikationen, die erfolgreich sind und brav (was auch immer das genau heißen mag). Bekannte Finder „braver“ Literatur äußern das in letzter Zeit gern mehr oder weniger öffentlich, und dann antworten andere darauf, die auch drei Bücher publiziert und daraufhin eine eigene Meinung entwickelt haben – bis die Leser sich nur wünschen können, die ganzen Literaten und Feuilletonisten hätten das bitte alle mal schön privat unter sich geklärt. Den Raum, den ihre Debatte im medialen Diskurs eingenommen hat, hätte man ja auch nutzen können, um Texte vorzustellen, die nicht „brav“ sind, die nicht ins Open-Mike-Schema passen oder schon von allen großen Magazinen, TV-Zeitungen und Blogs „entdeckt“ worden sind. Auch diese Zeilen hier übrigens. Denn der Markt ist vielleicht brav, dessen Spiegelung im Feuilleton ist es wahrscheinlich, aber die Szene? Sehr unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist, dass jeder sich in genau der Literaturszene bewegt, die er verdient.

Franziska Augstein, 49, ist Journalistin. Sie schreibt für die Süddeutsche Zeitung Jede Art zu schreiben sei erlaubt, hat Voltaire gesagt, nur nicht die langweilige. Schon mit diesem Satz hat sich die jetzige Debatte eigentlich erübrigt. Wären da nicht die Worte, mit denen die Literaturkritikerin Sigrid Löffler sich über junge deutsche Schriftsteller vor einigen Jahren mokierte: Die meisten würden über ihre spannende Kindheit schreiben, über ihr spannendes Studium und ihren spannenden Auslandsaufenthalt. Wie Sigrid Löffler das sagte, war komisch. Und was komisch ist, nimmt man gern auch ein bisschen für wahr. In jener Zeit publizierte aber Detlef Opitz seinen Roman „Der Büchermörder“. Und dann erschien Joochen Laabs’ „Späte Reise“. Beide wurden von den Medien wenig beachtet. Wer sich über mangelnde Welthaltigkeit deutscher Gegenwartsliteratur beschwert, kann mit diesen Büchern ja mal anfangen.