Brüllbeton und Flüsterasphalt

VON DER OSTSEEAUTOBAHN JOHANNES GERNERT

Man muss am Abend über die A20 fahren. Wenn die Sonne hinter den weiten Feldern untergeht. Wenn alles in dieses rötliche, schummrige Licht getaucht ist. „Total kitschig, traumhaft, schön“, sagt Friederike Berthold. Sie ist dann richtig verliebt.

Jetzt ist es Montagmorgen. Die frisch abgeernteten Getreidefelder leuchten gelb, langsam drehen sich die Windräder. An Friederike Berthold rauscht ein dunkler BMW vorbei, immer Richtung Norden. Es ist kaum Verkehr. Eigentlich ist nie wirklich Verkehr auf diesem östlich gelegenen Teil der Autobahn 20, zwischen dem Kreuz Uckermark und der Abfahrt Greifswald, das hat Friederike Berthold beobachtet. Berthold, mit Abitur, ohne Studienplatz, gerade unterwegs zum Praktikum nach Greifswald im silbernen Renault Modus, geliehen von den Eltern. Wenn es wieder nicht klappt mit dem Medizinstudium: erst mal Indien.

Abfahrt 28, Jarmen

Wenn Friederike Berthold an Jarmen vorbeifährt, dann hört die Tierarztwitwe „bobopp“. Und wenn ein Laster über die Stahlverstrebungen der Autobahnbrücke fährt, dann hört sie „boroppbropp“. Die Tierarztwitwe wohnt am Stadtrand von Jarmen. Zu DDR-Zeiten war das ein Privileg, hier wohnen zu dürfen, außerorts, in Ruhe. Dann kam die BRD und jetzt die Autobahn.

„Jarmen hat sich zu fast 100 Prozent zur Autobahn bekannt“, sagt Arno Karp, CDU-Bürgermeister seit 1990. Der Ort würde von dem Bau profitieren, das war fast allen Jarmenern klar. Nur der Tierarzt wollte das nicht einsehen. Der Tierarzt hat ohnehin wenig eingesehen. Wohnte da draußen am Ortsrand, als DDR-Privilegierter, und wollte in der BRD nun, dass ihm die Stadt eine Straße dorthin baut. Und eine Laterne aufstellt. Und und und. Am besten alles gratis. „Das waren sie aus der DDR ja noch gewohnt, dass alles auf Regimentskosten geht.“ Der Bürgermeister hat ihnen das schnell abgewöhnt.

Jetzt haben sie ihre Straße. Die führt allerdings nicht zum Haus, sondern in einem Bogen drum herum, und sie ist vierspurig und heißt Ostseeautobahn. Und die Autos, die darüberfahren, machen bobopp, und die Laster boroppbropp. Jetzt ist der Tierarzt tot, und seine Witwe kann nachts nicht schlafen.

Dafür schlafen fast 100 Prozent der Jarmener besser, weil die schweren Lastwagen nicht mehr über die Bundesstraße 96 durch ihren Ort rumpeln und das Geschirr in den Vitrinen klirren lassen. Außerdem hat Jarmen jetzt ein Aldi- Zentrallager. Das bringt ordentlich Steuereinnahmen.

Jarmen hat auch einen Autohof, mit etlichen Zapfsäulen, an denen allerdings niemand tankt. Verlassen liegt er zwischen Ortsrand und Autobahn. „Ich sach ma so“, sagt der Bürgermeister, „durch die Autobahn geht sowieso vieles an Jarmen vorbei im Bereich Tankstelle.“ Auch im Bereich Gastronomie und im Bereich Hotellerie. Das ist der Nachteil, wenn die Autos und Laster leise dran vorbeirauschen, statt laut durch den Ort zu dröhnen.

Schwierigkeiten gab es zeitweise auch im Bereich Weihnachtsbaumanbau. Fred Wegner hatte zehn Jahre dafür gearbeitet. Von Beruf ist er eigentlich Feuerwehrmann, aber dann hat 1995 das Kernkraftwerk Greifswald zugemacht, wo er angestellt war. Da dachte Wegner: Weihnachtsbäume verkaufen. Er wusste nicht, wie man das anstellt, hatte keine Ahnung, dass Hasen Tannenspitzen fressen. Er musste Bäume eingehen lassen. Andere Sorten versuchen. Anders düngen, Erfahrungen sammeln. Irgendwann lief es. Die Leute kauften die Bäume.

Da stand eines Tages der Herr von der Deges vor der Tür. Die Deges ist die Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH. Der Herr sagte, das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 10, die A20, würde durch die Weihnachtsbaumplantage führen. Wie, sei noch nicht ganz klar.

Als Erstes kamen die Bodendenkmalpfleger, um nach den Resten alter Siedlungen zu suchen. Nicht mit kleinen Pinseln, wie Fred Wegner gedacht hatte, sondern mit richtigen Baggern. Da hätte er heulen können.

Die Autobahnlinie verlief schließlich quer durch Wegners gesamten Weihnachtsbaumbestand. Am Ende kam die Bodenfräse und hat alle Bäume zerschreddert. Übrig blieben schwarze Erde mit Holzstückchen und 7 Mark und 62 Pfennig Entschädigung für jeden Baum. Damit musste er wieder von vorn anfangen.

Fred Wegner ist trotzdem für die Autobahn. Wie fast alle in Jarmen. Der Protest gegen die A20, sagen sie hier, kam sowieso aus dem Westen. Die West-Umweltschützer haben ein Hüttendorf gebaut, dort, wo die Autobahn verlaufen sollte. Ein halbes Jahr hielten sie aus, selbst im bitterkalten Winter. Aber dann sind sie abgehauen. Das Dorf haben sie zurückgelassen, außerdem Müll und einen Abschiedsbrief: Aus der Umgebung habe sie leider keiner unterstützt. Nur ein Bauer hat gelegentlich Essen vorbeigebracht. Dessen Hof liegt jetzt quasi auf dem Standstreifen der Autobahn.

Baabe auf Rügen

Das Cliff-Hotel in Baabe liegt auf einem Hügel, es ist von außen so grau wie der Regenhimmel. Rentnerpaare in Regenjacken oder mit Schirmen schlendern umher. Die meisten von ihnen sind in diesem Jahr viel schneller hier gewesen als sonst. Dank der A20, dank des Rügen-Zubringers, der von Jarmen hierher führt.

„Der Vorteil an der A20: Die Leute sind schnell da. Der Nachteil an der A20: Sie sind auch schnell wieder weg.“ Uta Donner lacht nicht. Sie meint das völlig ernst. „So wie jetzt, wenn es regnet etwa“, sagt sie. Dann ziehen die Touristenpärchen ihre Zwillingsregencapes an, setzen sich ins Auto und fahren auf Rügen rum. Wenn sie aber genug rumgefahren sind, wenn der Regen andauert, was hält sie dann davon ab, nach Hause zu fahren? Die A20 nicht.

„Die A20 verkürzt die Reisezeit für wichtige Destinationen um ein bis zwei Stunden“, sagt der Kurdirektor, Uta Donners Chef. „Der Effekt auf der Insel dagegen ist noch ein bisschen fraglich.“ Auf der Insel herrscht nach wie vor Dauerstau, daran wird auch die neue Rügenbrücke nichts ändern, die sie gerade bauen. Um den Stau auf Rügen zu bekämpfen, müsste eine mehrspurige Bundesstraße her. Die ist geplant.

Uta Donner hat ein Büro in der Kurverwaltung von Baabe, ein paar hundert Meter vom Cliff-Hotel entfernt. Ein Haus mit einem Strandkorb im Erdgeschoss, in dem Rügen-Prospekte liegen. Im ersten Stock sitzt sie, als Honorarkraft, Bezahlung stundenweise. Uta Donner hat ihren Master in Tourismusmanagement gemacht und als Abschlussarbeit ein Tourismuskonzept für Baabe entworfen. Dann ist sie aus Berlin zurück nach Rügen gekommen, zurück ans Meer. Zurück auch zu den Vorpommern, die, „das mag jetzt abgedroschen klingen“, sagt sie, „nicht so ein freundliches Wesen haben“, die den Servicegedanken der Tourismusbranche manchmal nicht so richtig aufgenommen haben. Uta Donner kümmert sich darum. Für Baabe.

Unterwegs nach Stralsund

Er hat damals öfter Tramper mitgenommen nach Jarmen, ins Protestdorf. Frank Tüngler hing dort ein bisschen mit ihnen rum. Die waren ganz nett. Er ist sämtliche Zigaretten und ein bisschen Geld losgeworden. Einmal hat er sie gefragt: „Habt ihr die Pläne für die Autobahn gesehen?“ Die lagen ja öffentlich aus. „Nö, Autobahn ist Scheiße“, haben sie gesagt. Frank Tüngler, Informatiker, unterwegs von Rügen zurück nach Stralsund, Netzwerk gerichtet gerade, Stau jetzt, Kippenhaufen im Ascher, Qualm überall, Regen gegen die Scheibe. Tüngler fährt langsam an der neuen Rügenbrücke vorbei. Noch steht das Fahrbahnende in der Luft, vier Spuren mitten über dem Strelasund. Die Brücke wird die Insel mit dem vorpommerschen Festland verbinden.

Abfahrt 24, Stralsund

„Fragen Sie jemanden von der Deges“, sagt Reinhard Klette. „Die werden sagen, die Brücke wäre auch so gebaut worden, genauso schnell – auch ohne unsere Initiative.“ Reinhard Klette, der Sprecher der Initiative Pro A20/Rügenanbindung, schüttelt den Kopf. Mehr als 20.000 Unterschriften haben sie gesammelt – auf Messen, Ausstellungen, in Malls und in ihren eigenen Geschäften. Auch in Dr. Reinhard Klettes Autohaus. Die Leute waren begeistert. Endlich tut mal jemand was, haben sie gesagt.

Ein halbes Jahr vor der Landtagswahl 1998 fingen sie an zu sammeln. „Wir wussten, da sind die Parteien besonders sensibel“, sagt Klette. Anfangs war die Landesregierung noch skeptisch. Der Bund wollte nicht alles allein zahlen, Mecklenburg-Vorpommern wollte nichts zuschießen. Von EU-Förderung war noch keine Rede. Es war dann ihre, die erste Volksinitiative in Mecklenburg-Vorpommern, die durchkam. Wenig später hat sich auch die Regierung zur Rügenanbindung bekannt.

Reinhard Klette profitiert nicht persönlich. Sein Autohaus liegt am Stadtrand von Stralsund, ein gutes Stück weg von der A20. Aber es ging nicht um ihn. Die Gegend um Stralsund, das war totes Gebiet, ganz schlecht erreichbar. Da musste etwas getan werden. Reinhard Klette ist so einer, der etwas tut.

Er war Mathelehrer bis zur Wende. Dann bekam er Angst, sie könnten ihn rausschmeißen. Da hatte der Doktor der Hochschulpädagogik einen Traum. Um fünf hat er seine Frau geweckt, um halb sieben den Sohn. „Papa, du spinnst“, hat der gesagt. „Ich hatte nichts“, erinnert sich Klette, „nur die Idee“: Autohändler werden, Markenhändler. Nicht bei den großen deutschen Marken, eher Japaner, Franzosen. Er hat sich ein Buch der Deutschen Bank angesehen: „Wie mache ich mich selbstständig?“ Da waren Vorlagen drin für Unternehmenskonzepte, so eins hat er geschrieben und an Autokonzerne geschickt. Die haben sich gewundert – ein Mathelehrer aus dem Sozialismus. Kann der so was überhaupt? Reinhard Klette ist jetzt seit über zehn Jahren Peugeot-Händler.

Am Abend steht er am Strelasund und schaut seine Brücke an. Er kommt öfter hier vorbei und sieht ihr zu, wie sie wächst. Als der Bau begann, haben Umweltschützer sich an die Fenster in einem anliegenden Haus gestellt und Geldsäcke rausgeworfen. Das fand Reinhard Klette „witzig“.

Auf der Strelasundbrücke

Am nächsten Tag führt Karl Kleinhanß eine Gruppe Rügener Baustellenbesucher über die Brücke. Er ist Abteilungsleiter Brückenbau bei der Deges. Für die Rügenbrücke hat er an die 300 Klärungsgespräche geführt, um die 60.000 Unterschriften geleistet. Mit dem Bau der A20 ist er durch Mecklenburg-Vorpommern gezogen. Seine Tochter nennt ihn einen Brückennomaden.

Es gab mal das Wort von der Monsterbrücke, es gab die Angst vor der Stadtbildverschandelung, die Sorge auch, die Unesco könnte Stralsund, der alten Hansestadt, den Weltkulturerbe-Status aberkennen. Dagegen baut Kleinhanß an.

Man solle ruhig fragen: Wie sieht die Umwelt aus? „Die Umgebung ist schiffsgeprägt“, sagt Karl Kleinhanß. Die Brücke wurde also an die Formenwelt der Segelschiffe angepasst. Schlank sollte sie sein, leicht, unauffällig, stadtbildverträglich. „Strelegant“, sagt Kleinhanß. „Manchmal machen wir da a bissl so Wortspiele.“

Man solle die Brücke als Tor nach Rügen empfinden, sagt Kleinhanß den Gästen von der Insel. Die Besucher haben blaue Bauhelme auf und fotografieren abwechselnd die Silhouette von Stralsund und die ersten Bäume der Insel Rügen. Kleinhanß erklärt, wie die eiserne Raupe funktioniert, die am Brückenende über dem Strelasund hängt und den Bau Fahrbahnstück um Fahrbahnstück erweitert. Aus Kostengründen wird an den Rändern mit Beton gebaut. Schade, findet der Abteilungsleiter Brückenbau, Stahl sieht schlanker aus. Die Stahlarbeiter machen gerade Feierabend und braten hier oben Fleischspieße. Es riecht auch nach Rostschutzanstrich.

Später steht Bauoberleiter Ulrich Gawlas am Ufer des Strelasunds und schaut zu seiner Brücke hoch. Er beobachtet Vögel. „Sehen Sie“, sagt Ulrich Gawlas, „die fliegen außenrum.“ Hat er doch gewusst: „Kein Vogel ist so blöd und fliegt da rein.“ Diese Umweltschützer. Selbst während der Vogelgrippe im Winter gab es keine toten Vögel hier. „Die müssten doch voll mit Karacho in so ein Brückenseil reinfliegen.“ Gawlas schaut einer Möwe nach. „Sehen Sie“, sagt er, „fliegt außenrum.“

Rainer Holz, Zoologe, Abteilungsleiter beim Staatlichen Amt für Umweltschutz und Natur in Stralsund, ist sich da nicht so sicher. Manchmal fährt er mit dem Motorrad Vogelschwärmen hinterher, um ihre Flugrouten zu beobachten. „Es sind auch schon Schwärme vor Hochspannungsleitungen umgekehrt, oder darin hängengeblieben“, sagt er. Warum sollten ein paar Brückenseile sie nicht auch durcheinanderbringen können?

Holz hat die fachlichen Stellungnahmen der verschiedenen Naturschutzbehörden zur Autobahn koordiniert. In seinem Büro trinkt er Pfefferminztee, aus frischer Minze. Rainer Holz sagt: „Nach allem, was ich weiß, ist im Vergleich zu ähnlich gearteten Bauwerken bei der A20 ein hoher Umweltstandard realisiert worden.“ Es gibt Grünbrücken, über die die Dachse, Marder oder Füchse wandern können. Und es gibt Tunnel für Kröten und Frösche. Es gibt Ausgleichsflächen, große Ausgleichsflächen. Die Deges hat sich Mühe gegeben, da waren keine Betonköpfe am Werk.

In Jarmen, wo die Autobahn ins Peenetal schneidet, ein Naturschutzgebiet, ein Vogelschutzgebiet, da wurde die Brücke ins Wasser gebaut, um nicht die Ufergebiete zu zerstören. Die Deges-Leute, Karl Kleinhanß etwa, schmücken sich ein bisschen mit ihren Umweltmaßnahmen, sie sprechen vom „grünen Bereich“.

Die Autobahnlinie, das muss Rainer Holz dann doch sagen, hätte aus Naturschutzsicht besser verlaufen können. Direkter. Nicht so quer durch die Endmoränen. Schließlich sollte die A20 vor allem die beiden Wirtschaftsmetropolen Hamburg und Stettin verbinden und nicht jedem Mittelzentrum sein Aldi-Lager ermöglichen.

Unterwegs nach Westen

Tags darauf fährt Rainer Holz zu einem Arbeitstreffen, über die A20. Auf dem Armaturenbrett Vogelfedern, auf dem Autoboden Erde. Es geht vorbei an Holzstangen mit Mäusebussarden darauf. Er würde jetzt gerne eine Kleinhohlform zeigen, sagt er, so ein Eiszeitüberbleibsel. Holz beugt sich gefährlich weit übers Lenkrad, er schaut nach rechts, sucht die Felder ab. Er fährt jetzt noch 70, ein Laster überholt. „Da, sehen Sie“, sagt er. Er hat eine Kleinhohlform gesichtet: ein begrüntes Loch im Feld. „Da war mal Eis drin“, erklärt er, das ist ein bisschen länger geblieben, als die Gletscher weiterrutschten. Nun sind da diese wertvollen Löcher.

Wenig Verkehr jetzt. „Na ja“, sagt Holz, „man nennt die A20 auch Urlauberautobahn. Eine gewisse stillschweigende Abkehr von der ursprünglichen Zweckbestimmung“, findet er. „Sollte ja mal eine zentrale Wirtschaftsmagistrale zwischen zwei aufstrebenden Metropolen werden.“ Die Windräder draußen stehen vollkommen still.

Abfahrt 4, Lüdersdorf

Martin Broziat parkt seinen VW-Van in der Golden-Toast-Straße hinter einem Lkw. Die Großbäckerei Kamps hat hier ein Backwerk gebaut, im Gewerbegebiet Lüdersdorf, in A20-Nähe. „Um die 90.000 Tonnen Mehl im Jahr“, sagt Martin Broziat, Geschäftsführer der Wirtschaftsfördergesellschaft Nordwestmecklenburg. Geschaffene Arbeitsplätze: 250. „Bisschen wat tut sich“, sagt Broziat. Seit klar war, dass die Autobahn kommt, seit Mitte der Neunziger.

Der Geschäftsführer betreut die interessierten Unternehmen. Er bietet Flächen an, findet Fördermöglichkeiten, bündelt den Bürokram, sagt manchmal aber auch: Nein danke. Keinen Einzelhandel bitte. Keine Gartencenter, Autohäuser, Baumärkte. Stattdessen: produzierendes Gewerbe. Der Einzelhandel kann ruhig nach Lübeck. Einzelhandel, sagt Broziat, schöpft Kaufkraft ab. „Wir wollen Kaufkraft schaffen, nicht abschöpfen.“

In Nordwestmecklenburg kommen auf 1.000 Einwohner 28 Industriearbeitsplätze, im Bundesdurchschnitt sind es 80. „50 wären gesund“, sagt Broziat. Die kommen aber nicht mit den Gartencentern. Sie kommen mit Kamps, dem Großbäcker, mit Hansano, der Milchfirma, und mit Anton Schlecker. Sie kommen aus Schleswig-Holstein, aber nicht nur, das ist Broziat wichtig. Soll keiner behaupten, man klaue dem Nachbarland die Unternehmen, weil hier die Fördermitteln höher sind. „Propaganda“, sagt Broziat. Er zeigt es auf seiner Ansiedlungsliste. 6 aus Schleswig-Holstein. 6 von 33. Darunter allerdings die zwei größten Arbeitgeber.

Die Unternehmen kommen, weil Platz ist hier, „weil sie größer werden können“, sagt Broziat. Auch wegen der Arbeitskräfte. Die Fischfeinkostfabrik kam, weil sie keine geeigneten Mitarbeiter gefunden haben, „die mit Akribie und Herzblut dabei sind“, erzählt Broziat, „die zupacken können.“ Findet man nicht im Westen, „teilweise müssen die in Kühlräumen arbeiten“.

Vor dem Kamps-Werk in Lüdersdorf steht Elena Pankes Imbissbude. Sie steht hier wegen Kamps, wegen der Bauarbeiter und Lasterfahrer, die Hunger haben. Aber sie steht hier auch wegen Martin Broziat. Broziat macht Existenzgründerberatungen, er hat Elena Panke dabei unterstützt, sich mit einem Imbisswagen eine neue Existenz aufzubauen. Es läuft aber nicht mehr so gut im Augenblick, die Backfabrik ist fertig, die Bauarbeiter ziehen weiter. Und jetzt lässt Kamps die Lasterfahrer auch noch in der Kantine essen. Bisher durften sie da nicht rein.

Broziat nippt an seinem weißen Plastikkaffeebecher und sagt zu Frau Panke: „Mal abwarten.“ Die versichert, dass der Imbiss eine sehr gute Idee von Herrn Broziat gewesen sei, trotz allem, eine wichtige Erfahrung. Broziat nickt: „Mal abwarten.“

Hinter ihm steht ein leeres Zelt, das kostet 400 Euro Miete im Monat. Im Winter haben sich hier die Bauarbeiter gewärmt. Jetzt muss sich niemand mehr wärmen, das Zelt ist leer. Wenn schlechtes Wetter ist, sagt Elena Panke, macht sie 30 Euro Umsatz. „30 Euro, Herr Broziat, das ist einfach zu wenig.“ Aber nein, sie bereut es wirklich nicht, nein. Elena Panke war Erzieherin. Sie wollte etwas Eigenes haben. „Was Sie erfahren haben, Frau Panke“, sagt Broziat, „hätte Ihnen keine teure Marktanalyse geben können“.

Abfahrt 5, Schönberg

Am nächsten Tag geht Broziat zum Richtfest im Gewerbegebiet von Schönberg. Lindal baut hier ein neues Werk. Das Unternehmen stellt Ventile, Sprühköpfe und Kappen her, für Haarspray, Deo, Sprühsahne. Es will hier in Schönberg auch forschen, herausfinden, wie man Dosenweißblech durch PET ersetzen könnte.

Der Bürgermeister hat einen sehr feinen, gestreiften Anzug an, als würde heute eines seiner Kinder verheiratet. Er entschuldigt sich, dass er vom Zettel abliest. Man habe das nicht so oft hier. Unternehmensansiedlungen. Aber dieser Tag heute sei doch ein Signal, dass es vorwärtsgeht. Mit dem Land. Mit Schönberg. Auch dank der A20.

In Groß Siemz

Die Autobahn bringt den Fortschritt, sagt Rainer Berger, Bürgermeister von Groß Siemz, 328 Einwohner, direkt an der Ausfahrt Schönberg gelegen. Er sitzt in seiner Gartenlaube, Perserteppich auf dem Boden, Sofas darauf, darüber Decken. An der Wand eine Schützenscheibe.

Rainer Berger kann den Fortschritt hören. Ein leises Rauschen – bei Ostwind. Wenn der Wind dreht, rauscht der Fortschritt schon lauter. „Was da an Autos kommt am Wochenende, das ist Wahnsinn“, sagt Berger. Er meint das nicht als Klage. Er will sagen: Da tut sich was. Gut so. Auch wenn er dafür in warmen Sommernächten schlaflos bei geschlossenem Fenster schwitzt. „Das ist der Preis für den Fortschritt“, sagt Berger. „Dass wir hier ein bisschen mehr zahlen, ist natürlich doof. Aber nicht zu ändern.“ Vielleicht ist das auch so ein Ost-Ding, überlegt er. „Wir sind halt so erzogen, wir halten zusammen.“

Die Groß-Siemzer haben auch gegen den Brüllbeton zusammengehalten. Ausgerechnet ihnen hatte die Deges einen Betonbelag mit Namen „Besenstrich quer“ beschert – statt Asphalt. Ausgerechnet hier, wo der meiste Verkehr ist. Es dröhnte so laut von der Autobahn herüber, dass die Dörfler dachten, gleich müsse ein Schwerlasttransporter um die Ecke der Dorfstraße biegen. Sie haben die Medien mobilisiert, anfänglich hat sich die Deges geweigert. Der Kampf ging über Monate. Dann kam endlich auch hier der Flüsterasphalt.

Wenn Rainer Berger mit der Familie Urlaub macht in einem Schweizer Tal, dann fragt er sich manchmal: Hat hier einer den Schalter umgelegt? So still ist es.