Ist Deutschland eine Feier wert?
JA

WIEDERVEREINIGUNG Jetzt sind es zwanzig Jahre. Am 3. Oktober wird das Jubiläum der deutschen Einheit gefeiert. Zeit, Bilanz zu ziehen, ob sich das Land die Party verdient hat

Katrin Hattenhauer, 41, ist Malerin und Bürgerrechtlerin, die 1989 für offene Grenzen in der DDR eintrat

Deutschland ist ein Fest wert, denn wir leben in einem Land, in dem die Menschen freiwillig bleiben, andere kommen gern hierher. Ein Land, in dem man glauben und sagen kann, was man will, ohne Überwachung und Strafe. Unsere Regierung wird frei gewählt. Meine Großeltern lebten in einem vereinten Deutschland, mein Sohn tut es wieder. Wir haben keine vollkommene Gerechtigkeit, und es gibt vieles, wogegen man sein kann, sein sollte. Wer aber in Deutschland anders denkt als die Mehrheit, wird dadurch nicht zum Feind, dem ein selbstbestimmtes Leben verwehrt wird. In der DDR, in der ich aufgewachsen bin, konnte man weder Regierung noch Beruf noch Wohnort frei wählen. Fluchtversuche von Menschen, die das nicht hinnehmen wollten, endeten oft tödlich, andere, die protestierten, wurden eingesperrt. In Deutschland wird heute viel gehadert, beurteilt, analysiert. Ich bin dafür, unsere Freiheit mehr herauszufordern. Mehr Aktion, weniger Kritik. Wenn man Willen und Ausdauer hat, kann man mitgestalten, Bäcker, Künstlerin, sogar Bundeskanzlerin werden. Es gibt viele Gründe, Deutschland zu feiern.

Magdalena Tulli, 54, ist Schriftstellerin aus Polen, zuletzt erschien ihr Roman „Dieses Mal“ auf DeutschGlückliche Ereignisse, unblutige Siege soll man feiern. Schöne Momente haben eine kurze Lebensdauer. Ein Jahrestag oder auch Nationalfeiertag soll den schönen Moment in die Erinnerung zurückrufen, er soll den Menschen Kraft geben und den Glauben an den Sinn des Lebens. Nicht so wie bei uns in Polen. Wir feiern nur die Jahrestage der Niederlagen. Je schlimmer die Niederlage, desto größer die Feier. In Polen denken wir auch ständig daran, ob die Welt wirklich weiß, dass nicht etwa der Fall der Mauer diesen Teil Europas befreit hat. Denn schon einige Monate zuvor, im Juni 1989, verlor die regierende Partei Polens die ersten halbfreien Wahlen im damaligen Ostblock. Der Fall der Mauer wurde zum Symbol der Einheit Deutschlands und Europas. Denn diese unglaublichen Szenen, als sich Menschen von beiden Seiten der Mauer in die Arme fielen, rührten die Herzen zutiefst. Viele von uns freuten sich mit den Deutschen, auch wenn einige sich auch fürchteten. Die Jahre gingen ins Land. Es zeigte sich, dass sich niemand zu fürchten brauchte. Niemals werde ich diese Bilder vom Fall der Berliner Mauer vergessen. Allerdings sah ich sie nicht am 3. Oktober, sondern am 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht.

Béatrice Angrand, 43, ist französische Generalsekretärin beim Deutsch-Französischen Jugendwerk

Als Französin und überzeugte Europäerin kann ich Deutschland versichern: Ja, 20 Jahre Einheit sind ein Grund zu feiern. Ich lebte Anfang der neunziger Jahre in Mecklenburg-Vorpommern und bekam nicht nur die Euphorie nach dem Fall der Mauer mit, sondern merkte auch, dass Ost- und Westdeutsche einen hohen Preis dafür zahlen müssen. Doch die erreichte Freiheit und Unabhängigkeit sind durch nichts zu ersetzen. Das DDR-Regime zwang Menschen mit Gewalt zum Stillhalten und arbeitete damit gegen Werte, die wir jungen Franzosen und Deutschen mitgeben möchten: Mobilität, Vielfalt und Offenheit. Die Brückenfunktion Deutschlands zwischen West- und Osteuropa konnte das Land nur dank der Wiedervereinigung übernehmen. Seitdem hat sich das Deutschlandbild stark verändert, besonders bei jungen Menschen. Symbolisch dafür die bunte Fußball-WM 2006 oder auch Berlin, Anziehungspunkt in ganz Europa. Für französische Jugendliche gewann das Land durch die Wiedervereinigung an Attraktivität. Deutschland wird nicht mehr sofort mit dem Dritten Reich in Verbindung gebracht, sondern steht auch für ein positives historisches Ereignis, mit dem sich junge Französinnen und Franzosen identifizieren: einer erfolgreichen Revolution – 200 Jahre nach unserer Revolution, dieses Mal friedlich.

NEIN

Armin Petras, 46, ist Theaterregisseur, Autor und Intendant des Maxim Gorki Theaters in Berlin

Feiern ist Alltag: Irgendwer hat immer Geburtstag, gewonnen oder wenigstens was zu trinken dabei. Feiertage dagegen sind eine absurde ideologische Konstruktion, die eine zufällig zusammengestellte Gruppe zu einer Schicksals- und Glaubensgemeinschaft zusammenschließen soll, die sie nicht ist. Am 7. Oktober 1989 wurde mit viel Pomp eine DDR gefeiert, die es nicht mehr gab. Am 3. Oktober 2010 wird eine Einheit gefeiert, die es nicht gibt. Angesichts dessen, dass der einzige Moment „nationaler Einheit“ in der deutschen Geschichte 50.000.000 Menschen das Leben kostete, ist das vielleicht sogar beruhigend. Aber feiern? Erinnern ist Arbeit an der Gegenwart: Widersprüche aushalten, Komplexität suchen. Erinnern in diesem Sinne sollte Alltag sein und kein Feiertagsprogramm. Ein Traum wäre die Umbenennung von „Feiertag“ in „Freier Tag“. Ein deutschlandfreier, redenfreier, veranstaltungsfreier Tag, an dem wir mal nicht „ein Volk“ sein müssen, sondern einfach Bevölkerung sein dürfen. Dann hätten wir die restlichen 364 Tage Zeit für die Suche nach einer gemeinsamen politischen und sozialen Sprache, nach einer Idee von Zusammenleben, die den Arbeitstitel „Deutschland“ nicht braucht.

Gabi Zimmer, 55, war Bundesvorsitzende der PDS und sitzt heute für Die Linke im Europaparlament

Für mich gibt es zwei Sichtweisen auf Deutschland. Die als Bürgerin der Bundesrepublik und die als EU-Bürgerin im Sinne der Citoyenne. So fällt mir spontan Heinrich Heine ein: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.“ Also eher frostiges Wintermärchen denn heiße Deutschlandparty. Ja, mir wird kalt, wenn ich an nicht transparente Atomkompromisse oder an die Haushaltsdebatte zu Hartz-IV-Aufstockungen denke. Deutschland – ein Winter und leider kein Märchen. Von Europa aus wirkt Deutschland wie ein dicker, alter Patriarch, der Europa seinen Willen aufzwingt: eine sozialfeindliche und teils undemokratische Wirtschaftspolitik. Deutsche Niedriglohnkonkurrenz im gemeinsamen Euroraum ist der Garant für deutsche Banken, vom Sozialabbau in Griechenland und anderswo zu profitieren. Richtig wütend werde ich allerdings über die Verlogenheit der Berliner Regierenden, wenn es um den deutschen Beitrag für die Millenniumsentwicklungsziele geht. Trotzdem will ich nicht jammern, vielmehr motiviert es mich, für ein anderes Deutschland in Europa zu streiten. Und ich freue mich – auch als in Deutschland lebende Europäerin – über meinen Mann, meine Kinder und Enkel, über einen Sonnenstrahl im Herbst oder den ersten Schnee. Da kann ich feiern – im Kleinen!

Sascha Vogt, 30, ist seit Juni 2010 Bundesvorsitzender der Jusos und zählt zum linken Flügel der SPD

Nein, Deutschland ist kein Grund zum Feiern. Am 3. Oktober wird die Wiedervereinigung gefeiert. Das ist gut und richtig. Für viele Menschen bedeutete der 3. Oktober die Wiedererlangung von Freiheit und das endgültige Aus einer Diktatur. Auseinandergerissene Familien und Freundeskreise konnten wieder zueinanderfinden. Das alles kann man feiern. Wer sich aber die Gesellschaft heute ansieht, stellt fest, dass sich die Spaltung in den vergangenen Jahren immer weiter vertieft hat. Die Lebensverhältnisse zwischen Ost und West sind noch nicht annähernd gleich, die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind größer statt geringer geworden, Millionen Menschen leben auch hierzulande in Armut. Während die Millionäre in den vergangenen Jahren die Champagnerkorken knallen ließen, wissen Arbeitslose häufig nicht, wie sie die notwendigsten Dinge des täglichen Lebens und ihren Kindern eine gute Bildung finanzieren sollen. Das alles ist also kein Grund zum Feiern. Man kann historische Ereignisse feiern oder auch Erfolge. Doch jede Gesellschaft kennt Licht und Schatten: Es macht keinen Sinn, ein ganzes Land an sich zu feiern.