„Immer wieder alles anders machen“

WALDORFPÄDAGOGIK Blick zurück und Blick nach vorn: Ein pensionierter Lehrer und eine junge Lehrerin berichten aus dem anthroposophischen Schulalltag zwischen Stuttgart und Berlin

„Steiner wollte keine Vorschriften machen, sondern Anregungen geben“

DIETRICH ESTERL

VON ANSGAR WARNER

Sitzenbleiben konnte man auf der Waldorfschule noch nie. Trotzdem hat Dietrich Esterl mehr als sechzig Jahre auf der Stuttgarter Uhlandshöhe verbracht. Also dort, wo die Bewegung der Waldorf-Pädagogik in den Zwanzigerjahren ihren Ursprung nahm. „Ich war schon als Schüler auf dieser Schule und habe dort mein Abitur gemacht“, erzählt der pensionierte Lehrer. Damals wie heute herrschte an Waldorfschulen Lehrermangel. So kehrte Esterl nach Ende seines Lehramtsstudiums zurück zu seiner alten Schule. Das staatliche Gymnasium konnte ihn trotz Aussicht auf Verbeamtung und bessere Bezahlung nicht locken. „Die Aussicht, als Lehrer dann dauernd den Weisungen eines Kultusministeriums unterworfen zu sein, gefiel mir nicht“.

So kam er von der Uni direkt in die waldorfpädagogische Praxis. „Ich habe sofort einen vollen Lehrauftrag gehabt, für das Lehrerseminar hatte ich da gar keine Zeit“, erinnert sich Esterl. Das sei aber auch nicht so schlimm: „Als Lehrer lernt man am besten beim Unterrichten.“

Esterls Fächer waren Deutsch und Geschichte, aber auch Latein, Griechisch und Kunst. In der Praxis ging es oft um übergreifende Themenstellungen: „Das ist ja auch so eine komische Sache, die Welt in Fächer zu unterteilen.“ So stand nicht das Pauken von Vokabeln im Vordergrund, sondern das Training des Sprachgefühls oder auch das Nachvollziehen, wie Sprache und Bewusstsein zusammenhängen. Dazu konnte auch mal der Versuch gehören, Marx auf Chinesisch zu lesen. „Wichtig sind Herausforderungen, während das bloße Pauken eher eine ‚Hereinforderung‘ ist“, so Esterl.

In der Nachkriegszeit waren Waldorfschulen für Außenstehende noch sehr exotisch: „Für die einen waren wir die Schule der Dummen, für die anderen die Schule der Reichen.“ Als Einheitsschule versammelte die Uhlandshöhe ein breites Spektrum unterschiedlicher Begabungen, das war für Esterl das Spannende am Job: „Man muss die Kinder alle interessieren, so ansprechen, dass alle etwas vom Unterricht haben. Die Schule sollte sich an die Kinder anpassen.“

In sozialer Hinsicht war die Staffelung nicht ganz so breit: „Von den Anfängen als Arbeiterschule hatte sich die Uhlandshöhe leider sehr schnell entfernt“, so Esterl. Trotzdem sei die Waldorfschule eine unverzichtbare Alternative zum dreigliedrigen Schulbetrieb, gerade in Baden-Württemberg: „Der Zwang zur Selektion ist doch unmenschlich. Die Abiturientenquote betrug damals an staatlichen Schulen vielleicht 10 Prozent, an den Waldorfschulen lag sie bereits bei 60 Prozent.“

Die große inhaltliche Freiheit in seinem Berufsleben hat Esterl genossen, eine Freiheit, die er nicht nur in Abgrenzung zum staatlichen Schulsystem sieht, sondern vor allem auch innerhalb der Waldorfpädagogik: „Steiner ist oft falsch verstanden worden, er wollte keine Vorschriften machen, sondern Anregungen geben.“ Was vor Ort passiere, hänge deswegen immer von den Menschen vor Ort ab: „Es gibt keine Waldorfschule. Wir müssen die Waldorfschule machen.“

Die Berlinerin Mirjam Schulz kann das nur bestätigen. Die junge Frau ist allerdings keine „studierte Lehrerin“, wie sie selbst sagt. Die Berlinerin hat einen Master-Abschluss in Kulturwissenschaften erworben, parallel dazu aber immer wieder mit dem Lehrerberuf geliebäugelt. „Ich habe mich immer wieder gefragt: Soll ich nicht doch auf Lehramt wechseln?“

Ein Jahr lang unterrichtete sie als Deutschlehrerin an einem französischen Collège, als Schulassistentin schnupperte sie in den Berliner Schulkosmos hinein. Doch Staatsexamen und Verbeamtung, das war nichts für Mirjam Schulz. „Im Lehrerzimmer wurde mir die Energie entzogen.“ Viele ihrer Kolleginnen und Kollegen nahmen Schüler vor allem als Problemfälle wahr.

Mirjam Schulz machte sich auf die Suche nach Alternativen – und wurde fündig. An der Kant-Akademie in Berlin-Steglitz unterrichtet sie seit Kurzem Berufsschüler. „Ich fühle mich wohl hier, das Schülerbild der Kollegen ist sehr positiv, es herrscht das Gefühl vor, jeder Schüler ist etwas Besonderes, bringt etwas mit“, freut sich Mirjam Schulz über ihre Wahl.

Die private Kant-Akademie ist eine Ausgründung der Emil-Molt-Schule, Berlins ältester Waldorfschule. Angeboten werden dort unter anderem Berufsausbildungen zum kaufmännischen Assistenten, aber auch die Erlangung der Fachhochschulreife in den Bereichen Wirtschaft und Sozialpädagogik. „Die spannende Frage hier ist: Was kann die Waldorfpädagogik in der Berufsbildung leisten“, so Schulz. Der berufsbildende Zweig der Kant-Akademie wird gerade weiter ausgebaut, Schulz ist also Teil einer Work in Progress. „Es geht darum, wie kann sich der Unterricht, wie kann sich der Schulalltag verändern?“ Die Verbindung von Waldorfpädagogik und Berufsschule ist für Schulz dabei auch so etwas wie die Rückkehr zu den Wurzeln: „Die erste Waldorfschule in Stuttgart ist ja ursprünglich für Arbeiterkinder gegründet worden, und jetzt kehrt die Waldorfpädagogik quasi wieder in die Arbeitswelt.

Die Schüler an der Kant-Akademie reagieren sehr unterschiedlich. Für manche von ihnen hat vermeintlich schon die Abfrage mit Karteikarten etwas „mit Waldorf zu tun“. Andere waren bereits mal auf einer Waldorfschule und kennen sich etwas besser aus. „Bei uns gibt es eine bunt durchmischte Klientel, unterschiedliches Alter, manche Schüler sind bereits volljährig, manche haben eine Karriere als Schulversager, insgesamt findet man sehr unterschiedliche Fähigkeiten und Begabungen.“ Um reine Stoffvermittlung kann es deswegen ebenso wenig gehen wie darum, alle Schüler über einen Kamm zu scheren. „Als Lehrerin muss ich heutzutage immer mehr auf der sozialen Ebene leisten. Gerade an der berufsbildenden Schule ist die Bildung auch ein Schlüssel zur Lebensbewältigung“.

Schulz versteht sich in Sachen Waldorfpädagogik als Lernende. „Anthroposophie kann man sich ja nicht intravenös einflößen“, sagt sie. Sie erarbeitet sich die Grundlagen Schritt für Schritt: „Ich schaue einfach, was gibt es, was passt zu mir, was passt zu meinen Schülern.“ Am Ende geht es um etwas, das weit über Berlin-Steglitz hinaus von Bedeutung ist: herauszufinden, was eine berufsbildende Schule mit Waldorfcharakter sein kann.