„Die Gefahr von Unruhen ist groß“

NOTLAGE Trotz internationaler Hilfe steht die Regierung vor dem Problem, zehn Millionen Obdachlose zu versorgen

■ 62, ist Pakistans bekanntester Journalist. Sein Buch „Taliban“, in der aktualisierten Ausgabe mit dem Untertitel „Afghanistans Gotteskrieger und der neue Krieg am Hindukusch“, wurde nach dem 11. September zum globalen Bestseller. Soeben erschien auf Deutsch: „Sturz ins Chaos. Afghanistan, Pakistan und die Rückkehr der Taliban“.

INTERVIEW SVEN HANSEN

taz: Herr Rashid, wie diskutiert Pakistan die Flutkatastrophe?

Ahmed Rashid: Das hängt vom jeweiligen sozialen Hintergrund ab. Bauern ohne Schulbildung denken, Pakistan wird für vergangene Sünden bestraft. Die Katastrophe ist eine Mischung aus Klimawandel und fehlender Vorsorge. Wir haben jährlich Überschwemmungen auf niedrigerem Niveau, aber Mittel für die Katastrophenvorsorge wurden vergeudet. Die Bevölkerung ist deshalb sehr wütend auf die Regierung.

Welche Folgen hat die Flut?

Erstens wurde in wichtigen Regionen die Infrastruktur wie Brücken, Straßen, Elektrizitäts- und Wasserversorgung völlig zerstört. Der Wiederaufbau wird sehr teuer und sehr lange dauern. Zweitens wurden die Verteilsysteme wie Basare und Depots zerstört, also nach der Flut ist die Verteilung von Lebensmitteln und Baumaterial sehr schwierig. Drittens wurde entlang des Indus, beginnend im Nordwesten, ein Gebiet zerstört, das sich durch die größte Armut, die höchste Analphabetenrate und die größten Aktivitäten militanter Islamisten im Land auszeichnet. Diese drei Charakteristika dürften sich weiter ausprägen. Die Taliban setzen bereits ihre Angriffe auf die Armee fort. Sie sehen die jetzige Situation als günstig für eine Revolution. Sie dürften verlorene Gebiete zurück- und weitere dazugewinnen. Denn es gibt keine Straßen und Brücken mehr, auf denen Soldaten oder Beamte dorthin gelangen können. Die Flut traf zudem die Regionen, in denen Pakistans Atomwaffen und -reaktoren sind. Wir wissen nicht, was dort angerichtet wurde, weil dies Staatsgeheimnisse betrifft.

Profitierte die Armee von der Flut?

Politisch sicherlich. Im Unterschied zur Regierung griff die Armee in großem Stil ein, wofür sie auch die Ausrüstung hat. Sie konnte ihr Image verbessern. Es gibt sogar Politiker, die offen die Machtübernahme des Militärs fordern. Das wäre ein Desaster. Ich glaube nicht, dass das Militär in dieser katastrophalen Situation die Macht übernehmen will. Gefährlich werden kann es nach der Flut, wenn zehn Millionen Menschen immer noch unversorgt sind. Massenunruhen dürften die Regierung überfordern, die Polizei wird sich wegducken, und dann bliebe nur noch die Armee.

Wie groß ist die Gefahr von Massenunruhen und Hungeraufständen?

Sehr groß. Zehn Millionen Menschen sind obdachlos und müssen ernährt werden. Das ist die Größenordnung eines ganzen Lands, in Norwegen etwa leben keine fünf Millionen. Wie ernährt man zehn Millionen über längere Zeit? Man muss die Bauern wieder ansiedeln, ihnen Saatgut, Dünger, Bewässerung geben. Mindestens zwei Anbauzyklen werden stark betroffen sein.

Berichten zufolge haben Hilfsorganisationen militanter Islamisten, die schon nach dem Erdbeben 2005 sehr aktiv waren, auch jetzt schnell geholfen.

Die islamistischen Hilfsorganisationen sind auf solche Situationen vorbereitet. Für pakistanische Nichtregierungsorganisationen ist es sehr schwer, Freiwillige zu mobilisieren, die Hilfsgüter verteilen. Aber die islamistischen Organisationen haben tausende Rekruten, die bereit sind, Härten auf sich zu nehmen. Ihre Organisationen sind vor allem im Nordwesten aktiv, wo die Kämpfe stattfinden. Diese Gebiete waren am stärksten überflutet. Deshalb dürften sie weitere Anhänger gewinnen. Schon nach dem Erdbeben in Kaschmir haben sie schnell Koranschulen aufgebaut. Staatliche Schulen waren zerstört und so wurden die Koranschulen zum weiteren Rekrutierungsinstrument.

Pakistans Taliban haben gefordert, auf internationale Hilfe zu verzichten, und versprachen ihrerseits 20 Millionen US-Dollar Hilfe.

Das war eine dumme Forderung. Die Taliban haben überhaupt nicht die Mittel für Nothilfe in größerem Maßstab. Wäre es den Taliban ernst, hätten sie einen Waffenstillstand gefordert und Nothilfe zugelassen. Stattdessen wollten sie Hilfe und gleichzeitig Regierung und Militär angreifen und an der Hilfe hindern. Das konnte nur nach hinten losgehen.

Wie wird die Nothilfe westlicher Staaten wahrgenommen?

Sie wird stark kritisiert und als viel zu langsam gesehen. Zunächst wurde im Ausland das Ausmaß der Zerstörung falsch eingeschätzt. Doch dazu kommt das Glaubwürdigkeitsproblem der pakistanischen Regierung. Geberländer halten sie für korrupt und inkompetent. Die Reaktion der Regierung, nicht der Armee, war ja auch wirklich schlecht und langsam. Doch die Zurückhaltung des Westens ist Pakistans Öffentlichkeit nur schwer zu erklären. Die fühlt sich vom Westen erneut verlassen. Es ist deshalb mit stärkerem Antiamerikanismus und einem Ansehensverlust des Westens wie der Demokratie zu rechnen.

Obwohl der Westen letztlich stark hilft, nützt es ihm politisch nichts?

Geld, Hilfslieferungen und Hubschrauber kommen jetzt, aber viel zu langsam etwa im Vergleich zur schnellen und massiven Hilfe nach dem Tsunami 2004. Es gibt eine internationale Pakistanmüdigkeit. Dieser Armutsstaat fordert immer wieder etwas, aber sorgt mit seiner fortgesetzten Unterstützung für die afghanischen Taliban für Verärgerung. Das ist aber Pakistans Bevölkerung schwer zu erklären, weil Armee und Regierung – um von eigenen Versäumnissen abzulenken – sagen, der Westen helfe nicht.

Die Selbstmordanschläge militanter Islamisten gehen weiter, auch die Drohnenangriffe der USA. Empört das die Flutopfer?

Eine internationale Geberkonferenz hat direkt vor der UN-Vollversammlung in New York Pakistan am Sonntag weitere Millionen Dollar Fluthilfe zugesagt. Ein genauer Betrag wurde nicht genannt, doch gab es nur wenige Staaten, die ihre bisherigen Zusagen substanziell erhöhten. Am Freitag hatten die Vereinten Nationen ihren bisher umfangreichsten Spendenaufruf der Geschichte verfasst. Sie forderten dazu auf, den Flutopfern in den nächsten zwölf Monaten mit zwei Milliarden Dollar zu helfen, womit der bisherige Spendenaufruf von 0,46 Milliarden mehr als vervierfacht wurde.

Die deutsche Bundesregierung erhöhte ihre bilaterale humanitäre Unterstützung für Pakistan um weitere 10 Millionen Euro. Damit gibt Deutschland bilateral 35 Millionen, weitere rund 15 Millionen gibt Berlin über multilaterale Kanäle wie die UN oder EU. Private Hilfsorganisationen haben in Deutschland bisher rund 90 Millionen Euro für das Land gesammelt. Seit Ende Juli haben die Fluten direkt mehr als 20 Millionen Menschen betroffen. Rund 10 Millionen wurden obdachlos. Bisher wurden mehr als 1.700 Tote gezählt. (han)

Sie regen sich mehr über die Selbstmordanschläge als über die Drohnenangriffe auf. Die Einstellung gegenüber den Drohnen hat sich verändert. Zum einen sind die Angriffe selektiver geworden und fordern weniger zivile Opfer. Auch gibt es keinen Zweifel mehr, dass Armee und Regierung dabei mit den Amerikanern kooperieren. Bereits vor der Offensive im Swattal 2009 wandelte sich die öffentliche Stimmung dahin, dass die Armee etwas unternehmen müsse. Das Militär erlitt dabei selbst starke Verluste. Heute helfen bis zu 80.000 Soldaten bei der Flut, aber mehr stehen an der Grenze zu Indien. Deshalb werden wir bis nächstes Jahr kaum Aktionen gegen militante Islamisten sehen. Diese wissen das. Für Armee und Amerikaner sind die Drohnen ein Mittel, den Druck aufrechtzuerhalten. Doch letztlich wissen wir nicht, wer wirklich dabei getötet wird und ob die USA damit Erfolg haben.

Ist die Flutkatastrophe trotz des Versagens der pakistanischen Regierung auch eine Chance für Reformen?

Ich habe die Einrichtung eines Treuhandfonds vorgeschlagen, der von der Weltbank und unabhängigen pakistanischen Ökonomen verwaltet werden sollte. Die Mittel verschiedener Regierungen würden dann transparent für Hilfs- und Wiederaufbauprojekte verwendet. Pakistans Regierung wäre auch vertreten, hätte aber keine alleinige Kontrolle. Über meinen Vorschlag regten sich viele Rechte in Pakistan auf, weil das ein Verlust der Souveränität wäre. Doch die haben wir längst verloren, weil Flut und Taliban große Gebiete kontrollieren. Wir brauchen jetzt das Vertrauen von Gebern und deren Wiederaufbauhilfe. Die Armee wird meinen Vorschlag aber wohl nie akzeptieren.

Kann die Flut eine Friedensdividende bringen?

Hoffentlich führt sie zur Änderung der pakistanischen Außen- und Sicherheitspolitik. Wie können wir behaupten, dass Indien unsere nationale Sicherheit bedroht, wenn heute die Flut eine viel größere Bedrohung ist und wir dort keine zehn Millionen Obdachlose werden ernähren können?

Kaum ein Land bekam so viel Hilfe von den USA wie Pakistan, und zugleich haben die USA in kaum einem Land so einen schlechten Ruf wie ausgerechnet dort.

Wer Pakistan kennt, ist sehr besorgt, dass es zum gescheiterten Staat wird. Aber Pakistan ist nicht irgendein marginales Land in Afrika, sondern von vitalem Sicherheitsinteresse für den Westen. Unglücklicherweise stützten die USA mit 70 Prozent ihrer Hilfe Pakistans Militär. So konnten sie keine Herzen gewinnen. US-Präsident Barack Obama und sein Sondergesandter Richard Holbrooke haben zum Glück gemerkt, dass sie mehr Bildung und Entwicklung in Pakistan unterstützen müssen.

■ Langfassung des Interviews unter www.taz.de