„Irrsinn, in der Tat“

UKRAINE Helfen Wirtschaftssanktionen gegen Putins Übergriff? Nein, sagt der Grüne Trittin. Denn sie träfen die aufstrebende Mittelschicht Russlands

■ Jürgen Trittin, 59, sitzt für die Grünen im Bundestag. Dort ist er Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Trittin war bis Oktober 2013 Chef der Bundestagsfraktion.

taz: Herr Trittin, die EU-Regierungschefs schrecken vor harten Wirtschaftssanktionen gegen Russland zurück. Warum?

Jürgen Trittin: Dieses Ergebnis war vorhersehbar. Die Regierungschefs der Europäischen Union hoffen darauf, weiter mit Russland verhandeln zu können. Und sie wissen, dass harte wirtschaftliche Sanktionen für alle Seiten – für Europa, Russland, aber auch die USA – schwere Folgen hätten. Die ökonomischen Verflechtungen und gegenseitigen Abhängigkeiten sind enorm.

Wie sehen diese aus?

Nehmen Sie nur die deutsche Wirtschaft: Unsere Unternehmen exportieren Fahrzeuge, Maschinen und Chemieprodukte nach Russland, sie investieren viel Geld in russische Firmen. Umgekehrt bezieht Deutschland ein Drittel seines Bedarfs an Erdgas und Erdöl aus Russland.

Aber sind ökonomische Drohungen nicht der einzige Hebel, um Putin einzuhegen? Ein Krieg gegen die weltgrößte Atommacht wäre Irrsinn.

Irrsinn, in der Tat. Europa behält sich Sanktionen vor, weil sie ein Druckmittel sein können. Aber in diesem Fall gilt: Die EU kann zwar mit Sanktionen drohen, aber alle beten, dass man sie nie verhängen muss. Das weiß auch Putin. Im Moment geht es akut darum zu verhindern, dass aus einem völkerrechtswidrigen Akt ein Bürgerkrieg vor der Haustür Europas wird. Bei diesem kurzfristigen Ziel helfen Wirtschaftssanktionen nicht.

Weil sie erst mit Verspätung greifen würden?

Richtig. Alle Sanktionsszenarien – ob im Iran oder anderswo – zeigen: Wirtschaftssanktionen sind ein mittel- bis langfristig wirkendes Instrument. Sie greifen sehr langsam. Und wenn man sie einstellt, dauert es sehr lange, bis die Folgen verschwinden.

Wie ist Russlands Wirtschaft aufgebaut?

Die russische Wirtschaft ist sehr wenig diversifiziert. 40 Prozent des russischen Bruttoinlandsproduktes kommen aus dem fossilen Energiesektor. Er befindet sich komplett in der Hand von Oligarchen, die eng mit der Staatsführung verbandelt sind. Zugespitzt: Russland ist eine Gazprom-Ökonomie.

Ist denkbar, dass Deutschland Energieimporte beschneidet, um Druck auszuüben?

Da müssen wir die Energiewende sehr beschleunigen, und auch dann ist das sehr langfristig. Faktisch halte ich es für ausgeschlossen. Selbst wenn Deutschland sich kurzfristig anderswo riesige Mengen an Erdgas und Öl besorgen könnte: Die Energielieferungen mit Russland sind langfristig angelegt, es gibt Verträge. Es wäre für deutsche Firmen juristisch meist gar nicht möglich, Zahlungen an Gazprom zu stoppen. Sie müssten entschädigt werden.

Was ist mit Sanktionen in anderen Branchen? Auch in Russland existieren neben der Energie andere Wirtschaftszweige.

Die russische Führung hat die eigene Wirtschaft in den vergangenen Jahren nicht ausreichend diversifiziert, weil das einen Machtverlust für die oligarchisch organisierte Elite bedeutet hätte. Mit Technologieexportverboten in anderen Wirtschaftszweigen würde man die treffen, die man als Bündnispartner für eine Demokratisierung Russlands dringend braucht. Eine aufstrebende Mittelschicht, mittelständische Unternehmer.

INTERVIEW:
ULRICH SCHULTE