KOMMENTAR VON MARTIN KAUL
: Atomkraft? Nicht schon wieder!

Der Protest vor dem Kanzleramt strahlt weit über die Energiefrage hinaus

Schon wieder auf die Straße? Bringt das noch was? Das werden sich heute viele fragen – selbst unter den zehntausenden von Demonstranten, die zur Großdemo in Berlin erwartet werden.

Mancher mag es frustrierend finden, die längst ausgelatschten Wanderstiefel wieder rauszuholen. Oder sich ärgern, dass die, die einst den rot-grünen Anti-Atom-Marsch in die Institutionen anführten, es offenbar verpasst haben, sattelfeste Verträge über den Atomausstieg zu schließen. Natürlich ist es ein Skandal, dass diese Regierung alte Atomreaktoren weiter strahlen lassen will, ohne die Frage der Endlagerung geklärt zu haben. Um der Anti-Atomkraft-Bewegung, die ihren Großprotest schon vor Monaten angekündigt hat, den Wind aus den Segeln zu nehmen, setzte die Regierung ihre atomare Lobbypolitik noch schneller um als geplant. Das Signal: Ihr könnt ruhig auf die Straße gehen, an unserer Entscheidung wird nicht mehr gerüttelt.

Wenn sie sich da mal nicht getäuscht hat. Es ist zwar noch offen, ob der Protest vor dem Kanzleramt mehr als symbolischer Natur sein wird; doch er ist schon jetzt ein Symbol, das weit über die Energiefrage hinausstrahlt.

Einerseits sind die Anti-AKW-Proteste, die vor 35 Jahren im badischen Örtchen Wyhl begannen, heute im Mainstream der Gesellschaft angekommen. Heute spricht selbst die CDU von der Atomkraft nur noch als „Brückentechnologie“. Doch weil sich der CDU-Umweltminister Norbert Röttgen in der Atomfrage als Umfallmännchen erwies, kann er für die Partei künftig nicht mehr die Flanke zum katholischen Biobauern auf dem Lande sichern.

Die Proteste vor dem Kanzleramt sind aber auch eine Warnung an die Politik, die sich immer noch viel zu sehr auf den Vierjahreswahlrhythmus verlässt. Doch das Wahlvolk ist längst nicht mehr so berechenbar wie einst. Das setzt die Politik unter Druck, wie man am Beispiel der Proteste gegen „Stuttgart 21“ sieht. Vorgestern erst hat sich Angela Merkel hinter das umstrittene Bauprojekt gestellt; gestern musste dessen Sprecher zurücktreten. Das kann passieren, wenn man den Druck von der Straße unterschätzt.