Der große Atom-Bluff

GLOBALISIERUNG Neben den 441 laufenden Meilern wird weltweit an 60 Kraftwerken gebaut. Aber eine Renaissance ist das noch lange nicht. Das weiß auch die Atomindustrie selbst

Die Zahl der Reaktoren stagniert seit 15 Jahren. Und das, obwohl Mitte der 1990er Jahre ebenfalls um die 50 Atomreaktoren in Bau waren

VON ARMIN SIMON

Atomkraft boomt. Kaum eine Woche ohne Meldung über ein Atomkraftwerk, dessen Bau geplant, verabredet, gestartet sei. Vom Eismeer bis Südafrika, von Kanada bis Australien liebäugelt die ganze Welt mit neuen Reaktoren. Einstieg statt Ausstieg, eine nukleare Renaissance?

Von einem „ambitionierten Plan“ Argentiniens ist da etwa die Rede und davon, dass das Land mithilfe dreier weiterer Reaktoren seinen Atomstromanteil auf 15 Prozent mehr als verdoppeln wolle. Tatsächlich ruhen die 1981 begonnenen Bauarbeiten am Reaktor Atucha-2 seit 1994.

In Kuwait berichtet der Generalsekretär des nationalen Atomkraftkomitees, der bisher atomstromfreie Ölstaat wolle binnen zwölf Jahren vier Reaktoren ans Netz bringen. Standorte, Reaktortypen, Finanzierung und Lieferanten stehen noch nicht fest. Anfang 2011, heißt es, solle zumindest eine „Roadmap“ vorliegen. Polen will angeblich 2022 ein erstes AKW ans Netz bringen. Konkret ist bisher nur, dass der Zeitplan nach den ersten Ankündigungen bereits zwei Jahre im Verzug ist.

Italiens Premierminister Silvio Berlusconi kündigt den Wiedereinstieg seines Landes in die Atomkraft an und schließt dafür ein Rahmenabkommen mit seinem französischen Amtskollegen Nicolas Sarkozy, der sich bei Auslandsreisen als emsiger Atomkraft-Unterhändler erweist. Der staatliche französische Atomkonzern Areva, einer von fünf AKW-Herstellern weltweit, berichtet stolz von vier im Bau befindlichen Reaktoren sowie 18, über die er verhandele, und einem Dutzend weiterer Anfragen. Indes: In einigen der interessierten Länder ist das gesamte Stromnetz für ein solches Großkraftwerk zu schwach.

In der Schweiz liegen drei Neubauanträge auf dem Tisch. Ob die Bevölkerung ihnen im Referendum, voraussichtlich 2013, zustimmt, ist jedoch fraglich. Und angeblich droht sogar im nahen Osten ein Atomkraft-Boom. Israel, Jordanien, Syrien, Ägypten planten Atomanlagen, zum Teil sogar gemeinsam, melden die Agenturen – räumen dann aber ein, dass diese Pläne noch sehr „vage“ seien.

Die Statistik der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) listet neben den 441 laufenden Reaktoren weltweit 60 in Bau befindliche auf, davon 23 in China, 11 in Russland, 5 in Korea und 4 in Indien. Das sind mehr als doppelt so viele Baustellen wie noch vor fünf Jahren. Auf Europa entfallen ganze vier. Zwei davon, im slowakischen Mochovce, sind Uraltreaktoren russischen Typs, deren Bau 1985 begann. Die beiden anderen, im finnischen Olkiluoto und im französischen Flamanville, bescherten Siemens und Areva wegen mannigfaltiger technischer Probleme bereits Verluste in Milliardenhöhe. Mycle Schneider, langjähriger Beobachter der Branche, konstatiert: „Tatsächlich nennenswert gebaut wird nur in zentralisierten Systemen.“

IAEO-Generaldirektor Yukiya Amano spricht dagegen von einer „wachsenden Akzeptanz“. Gerade erst hat die Organisation ihre Prognose nach oben korrigiert. Die nuklearen Kraftwerkskapazitäten, heißt es nun, könnten sich bis 2030 mehr als verdoppeln.

Eine gewagte Prognose. Denn, auch das verrät die IAEO-Statistik, in den vergangenen 20 Jahren hat sich die Gesamtleistung aller AKWs kaum noch erhöht. Noch immer decken sie nur 2 bis 3 Prozent des weltweiten Endenergieverbrauchs. Zuletzt produzierten sie sogar jedes Jahr weniger Strom. Auch die Zahl der Reaktoren stagniert seit 15 Jahren – und das, obwohl Mitte der 1990er Jahre ebenfalls um die 50 Reaktoren in Bau waren. Die vier bis fünf Neuinbetriebnahmen pro Jahr genügten gerade, um die Abschaltung alter AKWs zu kompensieren.

Daran dürfte sich nach Einschätzung von Atomexperte Schneider auch in den kommenden Jahrzehnten kaum etwas ändern. Das Durchschnittsalter des existierenden Reaktorparks liegt bei 25 Jahren. Selbst wenn man eine Laufzeit von 40 Jahren zugrunde legt, die bisher kaum ein AKW erreicht hat, müsste bis 2030 etwa alle 20 Tage ein neuer Reaktor ans Netz gehen, um wegfallende Kapazitäten zu ersetzen.

Davon kann, allen Ausbauplänen zum Trotz, keine Rede sein. Die in der Vergangenheit stillgelegten Reaktoren gingen überdies im Schnitt nicht erst nach 40, sondern bereits nach 22 Jahren vom Netz. Selbst Manager von Energiekonzernen machen inzwischen keinen Hehl mehr daraus, dass sich neue Atomkraftwerke unter Marktbedingungen nicht rechnen.

Der britische Energiestaatssekretär Chris Huhne verweist zwar auf zehn von der Regierung ausgewiesene Standorte für neue AKWs und auf das große Interesse ausländischer Stromkonzerne, darunter RWE, Eon und EdF. Sein Minister, ein Liberaldemokrat, betont jedoch, dass die Regierung keine Fördermittel für AKWs bereitstellen werde. Ob unter diesen Umständen noch Reaktoren gebaut werden, ist fraglich. „Alle Modelle, bei denen ein privater Betreiber das komplette Risiko des Kernkraftprojekts übernimmt, sind zum Scheitern verurteilt“, verriet ein hoher Eon-Manager unlängst der FAZ, griffig formulierte er: „Ohne Staatskohle keine Kernkraft.“

Der Chef des US-Energiekonzerns Exelon, des mit 17 Reaktoren größten Atomstromproduzenten der USA, John Rowe, präsentierte im Mai eine überarbeitete Kostenschätzung seines Konzerns. Um mithilfe neuer Atomkraftwerke eine Tonne CO2-Ausstoß einzusparen, müsse man 75 bis 100 Dollar investieren – Energiesparmaßnahmen, neue Gaskraftwerke und Windkraftanlagen kämen deutlich billiger, geht daraus hervor. Ernsthafte wirtschaftliche Probleme bekommen neue Atomkraftwerke nicht zuletzt durch den Boom der erneuerbaren Energien. Das Angebot der Erneuerbaren drückt die Auslastung der Reaktoren, entsprechend schlechter refinanzieren diese sich.

Von daher ist es kein Wunder, dass die Atomkonzerne vor allem danach streben, die Laufzeit ihrer existierenden und bereits abgeschriebenen Anlagen zu verlängern. Ökonomisch ist das vor allem dann rentabel, wenn sie kaum Geld für Nachrüstungen in die Reaktoren stecken müssen. Sicherheitstechnisch ist es riskant: Das hoch beanspruchte Material ermüdet, versprödet, bekommt Risse, die Wahrscheinlichkeit, dass Bauteile versagen, steigt. „Technikgeriatrie“ nennt Mycle Schneider diese Strategie der Laufzeitverlängerung. In seinen Augen ist sie die einzige Chance, die Atomstromproduktion zumindest auf dem aktuellen Niveau zu halten. Die angebliche „Renaissance der Atomenergie“, sagt Schneider, ist der „größte Bluff seit dem Irak-Krieg“.