China mit Charisma

Wirtschaftswachstum vs. Klimaschutz: China will weg von der Kohle – und setzt voll auf Atomstrom

PEKING taz | Die Funktionäre von Anping schalteten in den vergangenen Tagen einfach den Strom in ihrem Bezirk ab. Nicht nur in den Wohnungen, auch in Fabriken, Schulen und Krankenhäusern ging das Licht aus. Nur so sei es möglich, berichteten Chinas Zeitungen, die Anweisung der Zentralregierung aus dem Jahre 2006 umzusetzen, bis Ende 2010 den Energieverbrauch um ein Fünftel zu reduzieren.

Ähnliche Meldungen wie die aus der Provinz Hebei dringen derzeit auch aus anderen Regionen des Landes nach Peking. Sie zeigen, wie schwer es China fällt, Klimaschutz und forciertes Wachstum miteinander zu vereinbaren. Mithilfe eines gewaltigen Konjunkturprogramms entstehen immer mehr energiefressende Industrieparks und neue Städte. Von 10 Prozent Wirtschaftswachstum ist in diesem Jahr wieder die Rede.

Umso größer ist die Bereitschaft der Regierung, mehr Atomkraftwerke denn je zu bauen. Sie gelten als „saubere“ Alternative zu den Kohlekraftwerken, die noch über 70 Prozent der Elektrizität des Landes produzieren und China zum weltweiten CO2-Sünder Nr. 1 machen.

Derzeit liefern die sechs Atomanlagen Chinas mit elf Reaktoren nur knapp 2 Prozent des Stromverbrauchs. Aber die Pläne der Pekinger Regierung sind ehrgeizig: Bis 2020 sollen staatliche und private Investoren über hundert Milliarden Euro in den Bau von 30 weiteren Atomkraftwerken stecken. Der in China produzierte Atomstrom soll künftig 5 Prozent des Elektrizitätsbedarfs decken. 43 Anträge aus verschiedenen Provinzen auf den Bau von Atomkraftwerken liegen dem Staatsrat derzeit vor.

Von Anfang an achteten Chinas Energiepolitiker darauf, Know-how für ihre Atommeiler aus allen wichtigen Lieferländern zu sammeln, um bald selbst zuverlässige, konkurrenzfähige Anlagen bauen zu können: Sie importierten Reaktoren und Anreicherungsanlagen aus Frankreich wie aus Kanada, Russland und den USA. Inzwischen gehört die Volksrepublik zu den Exporteuren von Atomkraft: In Pakistan ist der chinesische Charisma-1-Reaktor am Netz, Charisma-2 wird gerade gebaut. Im April kündigte Peking den Verkauf zweier weiterer Reaktoren nach Pakistan an. Auch mit Südafrika, Argentinien und der Türkei haben Manager bereits Verkaufsverhandlungen geführt.

Besorgt über die ehrgeizigen Ausbaupläne der Atomindustrie äußerte sich kürzlich der für Atomsicherheit zuständige Beamte im chinesischen Umweltministerium, Zhou Shirong: „Während China immer größere Fortschritte in der Nukleartechnik macht, sind auch die Risiken gestiegen“, sagte Zhou in einem Interview mit der Kantoner Zeitung Südliches Wochenende. Problematisch seien unter anderem „der Mangel an qualifiziertem Personal“, „unklare Richtlinien und mangelhafte Investitionen in die Entsorgung des Atommülls“ und die schlechte Vorbereitung auf einen Notfall. Vor allem fehle es an fähigen Kontrolleuren. „Wir stehen unter großem Druck.“ JUTTA LIETSCH