Zuhören in Zeitlupe

Es sieht aus wie ein Niesen, immer wieder. Nach langen Sekunden ist der Buchstabe herausgepresst. Auf zum nächsten. Stotterer müssen sich ihren Mitmenschen zumuten. Nur Mut!

VON GIUSEPPE PITRONACI

Jens Lorenz das erste Mal zuzuhören ist wie eine Prüfung. „Nooch vooooor, noooch vooor vier Jahren hätt’ ich nicht so miiiiit miiiiit diiir hiiiiier reden können. Erstens hätt’ ich viiieeel zu viel Angst gehabt. Uuund uuund zweitens hätte ich längst nicht soo soo, sooooo soooo flüssig geredet wie jetzt. Maaaan merkt einen Unterschied.“ Als Jens zu Ende spricht, versuche ich, die ersten Worte wieder einzufangen. Sie sind mir entglitten. Ich höre zu schnell zu.

Ohne seine langgezogenen Vokale würde Jens immer wieder Bruchstücke von Worten wiederholen, immer wieder stocken. Denn er ist Stotterer. Durch die Gummi-Technik aber schiebt er sich in einen weichen Sprechstrom. Die langgezogenen Vokale brummen in einer tieferen Tonlage und wechseln sich mit Vokalen im normalen Tempo ab. Dadurch entsteht einen Singsang, der an einen Märchenerzähler erinnert. Wenn Jens spricht, braucht er drei-, vier-, fünfmal so lang wie andere Menschen. Jens ist 27, hat kurze blonde Haare, eine Brille und läuft gern Inline-Skate. Er möchte Druck- und Medientechnik studieren.

Der Stotterer und sein Stottern. Sie gehören zusammen wie Sklave und Herr. Manchmal mit wechselnden Rollen. Jedes Stottern ist anders. Es gibt den Stotterer, der einen Buchstaben wiederholt, der eine Silbe wiederholt, immer wieder, und trotzdem nicht weiterkommt. Das ist das Stottern, das alle kennen, das in Stottererwitzen vorkommt. Man kann auch anders steckenbleiben: stumm. Der Mund öffnet sich zu einem U. Aber es kommt kein U. Sekundenlang. Bis es der Stotterer plötzlich aus dem Mund stößt. Dann hängt das U manchmal einsam in der Luft, bis die anderen Buchstaben hinterhergeworfen werden.

Ina Schröder trägt Schlaghose und eine knallrote Kette. Ihr halblanges Haar ist mit Seitenscheitel locker gekämmt und passt zum mädchenhaften Gesicht. Die 43-jährige Fotolaborantin kriegt sich nicht mehr ein, als sie einen Stottererwitz – nein, nicht erzählt, sondern stottert. Ina ist selbst Stottererin. An der Stelle, wo der Mann im Witz stottert, stottert sie nicht. Sein Stottern ahmt sie nur nach. Den Witz hat sie auch schon auf der Bühne erzählt, in einem Stück des Berliner Hebbel-Theaters. Der Regisseur hatte Stotterer gesucht, die Stottererwitze erzählen.

„B-eim Ein-kaufen sch-schieben sie dir ’n Zettel und ’n Stift hin oder … sie … fallen …dir … ins … Wort, wo-wollen helfen oder gu-gu-gucken weg. Im Theater m-m-m-m-m-m-m-m-mussten sie sitzen bleiben und mir zuhören.“ Während Ina den Satz zu Ende spricht, überlege ich, welche von meinen Fragen ich weglassen könnte, um Zeit zu sparen.

Mindestens ein Prozent der Bevölkerung stottert. Quer durch alle sozialen Milieus. Meistens Männer, drei- bis viermal so viel wie Frauen. Den Grund für den hohen Männeranteil weiß man, wie so vieles beim Stottern, nicht genau. Ein möglicher Grund: Jungen hinken in ihrer Sprachentwicklung den Mädchen hinterher, wenn sie etwa fünf Jahre alt sind. Ein kritisches Alter. Viele Kinder fangen in diesem Alter an zu stottern. Die meisten hören nach ein paar Monaten wieder auf. Dass es eher Jungen als Mädchen sind, die später noch stottern, dafür gibt es eine weitere Vermutung: Jungen stehen unter höherem Leistungsdruck.

Jens Lorenz’ Kindheit war schön, zu seinen Eltern hat er bis heute ein sehr gutes Verhältnis. Aber die Schule war ab der fünften Klasse ein Horror. Jens brachte oft kein Wort heraus, wurde gehänselt, verkroch sich, hatte keine Freunde. Ab zwanzig kroch er langsam wieder hervor und erfand eine eigene Technik, das Gummi-Stottern. Endlich machte Jens etwas mit dem Stottern, nicht umgekehrt.

Auch wer Ina Schröder, der Bühnen-Stottererin, das erste Mal begegnet, nimmt fast nichts anderes wahr außer ihrem Stottern: Wenn sie spricht, kann ein Satz schon mal zehnmal länger dauern als bei Nichtstotterern. Inas Gesicht arbeitet mit. Ihre Augen schließen sich, ihr Gesicht zuckt nach unten, ihr Mund formt den Buchstaben. Es sieht aus, als ob sie stumm niest, immer wieder. Nach langen Sekunden ist der Buchstabe herausgepresst, der Kampf gewonnen. Auf zum nächsten Buchstaben. Wie kann diese Frau ein normales soziales Leben haben, mit Freunden ins Café gehen, Gespräche führen? Diese Frage stellen sich Nichtstotterer beim ersten Treffen. Beim zweiten nicht mehr. Für Ina und die Leute, die sie kennen, ist ihr Stottern eine Randerscheinung. Andere Dinge spielen eine viel größere Rolle in ihrem Leben, ihr 23-jähriger Sohn, ihre Familie, ihre Freunde, ihr Beruf. „Es ist vor allem unpraktisch“, sagt Ina über ihr Stottern. Schließlich seien die Telefongebühren höher, weil’s länger dauert.

Die große Frage, vor der jeder Stotterer immer wieder steht, ist: vermeiden oder nicht? Vermeiden ist das, was viele Stotterer machen, um das Stottern zu besänftigen. Stotterer gehen aus dem Bäckerladen mit einem Brot, das sie gar nicht wollten. Das Lieblingsbrot war zu schwer auszusprechen. Es gibt Stotterer, die ergreifen einen Beruf, bei dem sie möglichst wenig sprechen müssen. Werden Ingenieur, Laborant, Gärtner – obwohl sie womöglich lieber Lehrer, Verkäufer, Anwalt wären.

Ina und Jens vermeiden nicht. Sie muten sich zu. Sie lassen sich vom Stottern nicht abhalten, das zu tun, was sie möchten. Beide engagieren sich ehrenamtlich. Ina betreut Sterbende in einem Hospiz. Jens leitet eine Kindermannschaft, die Prellball spielt. Im normalen Sportverein. Die Karte liegt dann bei den Nichtstotterern. Sie sind es, die auch etwas leisten müssen, die reagieren müssen auf diese Herausforderung: sich mehr Zeit zu nehmen. Das ist es, was die selbstbewussten Stotterer den Nichtstotterern abverlangen. Es ist weniger als das, was die Umwelt täglich einem Stotterer abverlangt.

„Eees gibt halt, eees gibt halt Leute, die meinen, iiiich iiiich wäre betrunken, zum Beispiel aaaam Telefon. Eeees gibt auch … Eeeees gibt auch Leute, die denken, daaaass daaaass ich iirgendwieeee iirgendwieee irgendwieee geistig beeeeehindert bin … Eeeees Eeeees Eeeeees gibt Leute, diiiie fühlen sich wiiiirklich richtig verarscht … Diie meisten Leute kooommen wieder runter, wenn duuu ihnen sagst, du hast einen Sprachfehler.“ Jens zuzuhören ist wie zuhören in Cinemascope. Also muss ich akustisch einen Schritt zurücktreten. Sonst höre ich immer nur Ausschnitte.

Jens sitzt in seiner Wohnung und erzählt von seinem Training. In der U-Bahn spricht er manchmal wildfremde Leute an, hallo, ich heiße Jens, oder er führt laut Selbstgespräche. Das härtet ab, sagt er. Es macht dich angstfreier. In eine Bäckerei zu gehen ist für Jens kein Problem mehr. Seit einiger Zeit leitet er eine Theatergruppe für Stotterer. Wenn er etwas mit den Stotterern aus der Theatergruppe unternimmt, ist oft Sonja dabei, seine Freundin.

Sonja und Jens wohnen zusammen in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Sie lernten sich vor über zwei Jahren in der Disco kennen. Jens war in seiner stürmischen Coming-out-Phase als Stotterer. Vermeiden: kam nicht in Frage. Frauen kennen lernen: nur wenn er den ersten Schritt machte. Er war der Mann, sagt Jens, und lacht. Sonja nahm Jens’ Sprechweise in jener Nacht nicht so recht wahr. Beide waren etwas beschwipst, vielleicht führte sie seine Sprechweise darauf zurück. Aber auch als er sie am folgenden Nachmittag anrief, akzeptierte sie seinen Begleiter, das Stottern.

Stottern scheint es auf die Psyche abgesehen zu haben, setzt sich im Kopf fest, verbündet sich mit der Angst. Angst vor Ablehnung, Versagen, Spott. Wenn sich an der Theke im Laden hinter dem Stotterer eine Schlange bildet, und die Verkäuferin ungeduldig wird, hat das Stottern den Stotterer fest im Griff. Schon die Angst vor solchen Situationen ruft das Stottern auf den Plan. Ein Teufelskreis. Wenn Jens mit jungen Frauen spricht, stottert er stärker, bei Sonja ist sein Stottern nicht mehr so stark. Wenn Jens mit sich selbst vor dem Spiegel spräche, würde er gar nicht stottern. Das ist bei fast allen Stotterern so.

In ihrem Labor zwischen zitronengelb gestrichenen Büromöbeln führt Ina Schröder vor, wie sie ihr Stottern manchmal austrickst: Sie hält ihre Arme vor den Körper, als hielte sie eine Gitarre. Und spielt darauf herum. Die Worte purzeln dann fließend aus ihrem lachenden Mund. Wenn sie mit Kindern oder Tieren spricht, nimmt sich ihr Stottern eine Pause. Aber wenn beim Gespräch mit Erwachsenen ihr Stottern wiederkommt, scheint sie ihm das nicht übel zu nehmen. Sie hat sich mit ihrem Stottern arrangiert. Ina ist gesellig, gesprächig und voll Humor. Ihr Lachen ist ansteckend. Und sie lacht oft.

Wenn Ina spricht, sind zwischen den Wortfetzen oft sekundenlange Lücken. Manchmal klingt sie, als ob man bei einem Tonband schnell hintereinander immer wieder die Pausetaste drückt. Sie hat nicht das Gefühl, dass ihre Gedanken dann vorauseilen. Wenn sie wütend ist, macht ihr Stottern sogar Platz für flüssige Sätze. Als ein Anrufer mal ungeduldig den Hörer auflegte, weil es ihm zu lange dauerte, rief Ina ihn wieder an. „Ich stotter’ nun mal. Ich kann nicht so schnell reden“, sagte sie. Ganz ohne Stottern. Ein anderes Mal kam in ihr Zugabteil ein Stotterer. In seiner Anwesenheit stotterte sie kein einziges Mal. „Vielleicht wollte ich ihm nicht die Show stehlen!“, prustet sie los.

Hört man einem Stotterer zu, kann man nie sagen: So also spricht und stottert er. Wenn man ihn später wieder trifft, kann es sein, dass er plötzlich viel weniger oder viel mehr stottert. Man weiß es nie vorher. Das Stottern ist sensibel, hat feinste Antennen. Es lässt sich nichts vorschreiben. Nur austricksen lässt es sich manchmal. Jens möchte sich durch seine Technik langsam einem normalen Sprechen annähern. Indem er das Tempo Stück für Stück erhöht. Jetzt schon hüpfen zwischen seinen langsam fließenden Sätzen immer wieder flotte Wörter. Er braucht immer noch viel länger für seine Sätze als ein Nichtstotterer. Aber nicht so lang wie Ina.

„Was ich m-m-m-m-m-m-mer-ke, ist, dass Sachen, die s-p-pon-t-t-t-tan k-k-k-k-ommen, oft f-f-f-l-ließen.“ Als Ina sich am „merke“ abarbeitet, fiebere ich mit. Meine Hand hält sich in der Hosentasche an einem Taschentuch fest. Als Ina das Wort endlich rausbekommen hat, entspanne ich mich.

Die Ursachen des Stotterns, die richtige Therapie: Auf jeden Stotterer scheint was anderes zuzutreffen. Eine hundertprozentige Heilung, ohne Rückfälle, gibt es kaum. Seriöse Therapeuten messen ihren Erfolg nicht am reduzierten Stottern pro gesprochenem Satz. Stotterer sollen lernen, mit ihrem Stottern gut zu leben. Sich von ihm nicht beherrschen zu lassen.

Eine Szene im Café. Ina Schröder bestellt eine Scho-Scho-Scho-Scho-Scho … „Eine Schorle?“, fragt der Kellner. Ina lacht, sie möchte keine Schorle. Der Kellner muss noch etwas warten. Bis er erfährt, dass Ina eine Schokolade mit Sahne will. Sie weiß, dass der Kellner es nett meinte. Aber sie will die Worte selber sagen. „V-v-v-er-m-m-meiden ist zu an-n-str …“ Ich weiß, wie Inas Satz zu Ende gehen wird. Soll ich jetzt schon nicken, um Verständnis zu signalisieren? Oder warten, bis Ina das Wort zu Ende gesprochen hat?

Ohne seine Gummi-Technik würde Jens wohl so reden wie Ina. Ina kann sich nicht vorstellen, wie Jens zu sprechen. Obwohl sie dadurch flüssiger spräche, weniger abgehackt, weniger langsam. Aber sie glaubt, dass das Stottern ihr dann keinen Raum mehr ließe, um spontane Empfindungen auszudrücken. Beide, Ina und Jens, akzeptieren die Anwesenheit ihres Stotterns und gewinnen dadurch Gelassenheit. Längst nicht alle Stotterer sind wie Ina und Jens. Vielleicht sind derartig offensive Stotterer sogar die Ausnahme.

Viele, die weniger stottern als Ina und Jens, verstecken sich umso mehr. Stotterer haben mit ihrem Stottern verschiedene Phasen, entwickeln sich, haben Höhen und Tiefen. Jens macht jetzt sein Fachabitur nach, in einer Klasse mit lauter jungen Erwachsenen, die nicht stottern. Mit den anderen Schülern nimmt er ein Hörspiel auf für den Deutschunterricht. Alles kein Problem. Man muss sich bloß eintakten in Jens’ Rhythmus. Sein Stottern ist ein Stottern, das die Slow-Motion-Taste drückt. Um ihn herum läuft alles im gewohnten Takt. Jens’ eigene Gedanken sind oft schneller als seine Sprache. Aber er ärgert sich nicht mehr darüber. Seine Gedanken werden dann zurückgeworfen, wie er sagt – und versuchen, die Sprache vom Stottern zu befreien.

„Ich mache heute genau das, wovor ich mit zwanzig die allergrößte Angst hatte.“ Jens dehnt, Jens wiederholt, Jens braucht dreißig Sekunden für diesen Satz. Meine Ohren protestieren nicht. Sie haben Jens’ Takt kennengelernt.

GIUSEPPE PITRONACI, 37, lebt als freier Autor in Berlin