Das Böse sind womöglich wir

DR. CALIGARI Die Brotfabrik widmet sich in einem Festival der Bedeutung des Stummfilmklassikers „Das Cabinet des Dr. Caligari“

Am Ende gewinnt das Böse. Jedenfalls bei „Das Cabinet des Dr. Caligari“, dem expressionistischen Stummfilmklassiker von 1920 in der Regie von Robert Wiene scheint das so zu sein. Obwohl er noch immer viel Raum für Interpretation lässt und Verwirrung stiftet.

Dr. Caligari weckt den seit 23 Jahren schlafenden Cesare auf und macht ihn zu seinem Mordinstrument, wir dabei aber von einem Kommissar ertappt. Als Leiter einer psychiatrischen Anstalt lässt Caligari den Kommissar für verrückt erklären und einsperren. Caligari, der Undurchschaubare, verkörpert das Böse und die Manipulation. Sind wir alle Caligari geworden? Dies war die zentrale Frage am Freitagabend im Kino der Brotfabrik. Zum ersten Mal findet dort das Caligari-Filmfestival „Somnambule“ statt, FilmhistorikerInnen waren geladen, über die Bedeutung des Films zu diskutieren.

„Man muss sich ab und an von dem ganzen Müll im Kopf befreien und einfach den Film mal wieder ansehen“, sagte Claudia Dillmann vom Deutschen Institut für Filmkunst in Wiesbaden. Mit „Müll“ meinte sie unter anderem die Hinterlassenschaft von Siegfried Kracauers Standardwerk „Von Caligari zu Hitler“ von 1947. Kracauer zog darin eine Verbindung zwischen dem Morbiden des Films, der Revolution von 1918/19 und dem Aufkommen des Nationalsozialismus. Das Buch habe „in uns ein Rauschen im Hinterkopf hinterlassen“, meinte Dillmann.

Dieser Meinung war auch Martin Koerber von der Deutschen Kinemathek in Berlin, der betonte, der Film habe vielleicht nur deshalb solche Aufmerksamkeit bekommen, weil er einer der wenigen überhaupt geretteten Filme seiner Zeit sei und neben dem Film selbst noch Skizzen und Drehbuch erhalten geblieben sind. „Heute ist es kein Problem, den Film zu sehen, aber nach dem Zweiten Weltkrieg war Kracauer praktisch der Einzige, der Zugang zu dem Film in einem Archiv in New York hatte“, sagte Koerber.

Kracauers Interpretation habe jahrzehntelang die Diskussion über den Film bestimmt. „Das Cabinet des Dr. Caligari“ hat eine Rahmen- und eine Binnenhandlung, die sich immer wieder in die Quere kommen, und es bleibt unklar, ob Dr. Caligari eine imaginäre Figur ist oder nicht.

Was ist Schein, und was ist Sein? Dieser Frage widmen sich in der ein oder anderen Form auch die anderen Programmpunkte des „Somnambule“-Festivals in der Brotfabrik. Die Theatergruppe Dresdner Herzzbühne adaptiert „Das Cabinet des Dr. Caligari“ für ein visuelles Hörspieltheater, und im Kino der Brotfabrik werden Filme wie „Im Schatten der Made“, „Wozzeck“ und „Die letzte Rache“ gezeigt. In Letzterem irrt ein junger Mann in der Wüste umher und trifft einen Herrscher, der mit ihm um seinen Bewusstseinszustand spielen will. Der ist das Einzige, was der junge Mann besitzt. Der Film ist nach seiner Uraufführung 1982 größtenteils auf Unverständnis gestoßen. Was nicht weiter wundert, sind Handlung und Bilder doch durchaus befremdend postmodern.

„Im Schatten der Made“ ist ein Stummfilm von 2010, der in Ausstattung und Stil stark an „Dr. Caligari“ erinnert. Ein Künstler sitzt in seinem Atelier, das mit bemalten Requisiten schief und verwirrend wirkt. Und er schafft sich eine Frau, so wie Dr. Caligari sich einen Mörder schuf.

Bei Kurt Tucholsky, der das Original 1920 rezensierte, löste „Das Cabinet des Dr. Caligari“ wahre Begeisterungsstürme aus: „Der Film spielt – endlich! endlich! – in einer völlig unwirklichen Traumwelt.“ Wer sich ebenfalls in eine solche Traumwelt begeben und dabei noch ein Stück Filmgeschichte erleben will, sollte sich das Somnambule-Festival nicht entgehen lassen.

FRAUKE BÖGER

■ „Somnambule – Das erste internationale Caligari-Festival“, Brotfabrik. Noch bis zum 19. September