Größe im Verzicht

VON KLAUS HARPPRECHT

Wäre er jung gestorben, dann wäre dem Schreiber dieser Zeilen, wie allen anderen Nachrufautoren auch, vermutlich keine andere Wahl geblieben, als grob gegen die Regeln aller frommen Konvention zu verstoßen oder sich selbst in Bekundungen der schieren Heuchelei zu übertreffen. Das Alter, bittere Schläge des Schicksals, eine wachsende und reife Differenziertheit haben Rainer Barzel Respekt verschafft – auch, nein: zumal in den Reihen der einstigen Gegner und, was weitaus schwieriger war, selbst unter den sogenannten Freunden in der Christlich-Demokratischen Union und ihrer rabiateren Schwesterpartei in Bayern. Zuvor haben sie den einstigen Fraktionschef, Oppositionsführer und Kanzlerkandidaten allerdings fast so hundsföttisch behandelt wie Eugen Gerstenmaier, der in diesem Monat 100 Jahre alt geworden wäre, den Mann des Widerstands aus dem Kreisauer Kreis und der Verschwörer um Stauffenberg, den Gründer des Evangelischen Hilfswerks, das nach 1945 Hunderttausenden das Leben gerettet hat, den Bundestagspräsidenten, der das Bonner Parlament in den 15 Jahren seiner Amtszeit zu einem zuvor nie gekannten Selbstbewusstsein gegenüber der übermächtigen Regierung des Urkanzlers Konrad Adenauer (und der minderen Autorität seiner Nachfolger) erzog, ein stolzer und mitunter hochfahrender Dirigent der Legislative, der den Regenten der Exekutive stets auf Augenhöhe begegnete.

Man darf die beiden nun, im Schatten des Todes, sehr wohl in einem Atemzug nennen, was dem Verfasser dieser Betrachtung zu ihren Lebzeiten nicht eingefallen wäre. Sie vereint nicht nur die böse Erfahrung der Kälte, die ihnen von den christlichen Weggenossen zuteil geworden ist, als das Glück sie verlassen hatte. Beide sahen sich gezwungen, auf ihre Ämter zu verzichten – auch Barzel präsidierte zuletzt dem Bundestag – und ihre politischen Ambitionen ein für alle Mal zu begraben, angesichts des schnöden Verrats so vieler der vermeintlichen Freunde und gejagt vom entfesselten Meutenjournalismus. Die späten Referenzen vor ihrer Honorigkeit nutzten ihnen nicht das Geringste. Sie starben nicht einsam. Das zu behaupten wäre eine sentimentale Dramatisierung. Einige der alten Partner – auch aus dem anderen Lager – hielten zu ihnen. Gerstenmaier bewahrte sorgsam den Brief des Außenministers, Vizekanzlers und SPD-Vorsitzenden Willy Brandt auf, der dem Mann des Widerstandes seine Solidarität bekundete.

Rainer Barzel wird, dessen darf man gewiss sein, ein gleichermaßen ehrendes Gedenken seines sozialdemokratischen Partners Helmut Schmidt zuteil. Den beiden war als den Chefs ihrer Fraktionen in den Jahren der ersten großen Koalition (1966 bis 1969) eine Kooperation von vorbildlicher Sachlichkeit und Effizienz geglückt: alle beide fleißig, mit robuster Willenskraft, scharfer Intelligenz und taktischem Spürsinn begabt.

Der Erfolg der ersten Regierungsallianz der beiden großen Parteien der Mitte war nicht zuletzt das Verdienst dieser beiden eher klein gewachsenen und umso ehrgeizigeren Partner. Man wünschte sich in der Tat, ihre Nachfolger würden die Arbeit des Christdemokraten Barzel und des Sozialdemokraten Schmidt als ein verpflichtendes Beispiel anerkennen: Nicht anders als die Vorgänger sind sie, um das Bündnis der Mitte zu rechtfertigen, zu Leistungen verpflichtet, die von dem einen wie dem anderen Lager schmerzliche Kompromisse, ja Opfer verlangen. Für Rainer Barzel waren die drei Jahre der großen Koalition vermutlich die besten seiner politischen Karriere. Dann begann der Leidensweg.

Als Willy Brandt mit Walter Scheel gegen den Willen Herbert Wehners und die Kalkulationen der vermeintlichen Sieger der Bundestagswahl im September 1969 den amtierenden Kanzler Kurt Georg Kiesinger und seinen Fraktionsvorsitzenden kurzerhand über den Haufen rannte, um die erste sozialliberale Koalition zu formieren: Von jener stürmischen Nacht an sah sich Rainer Barzel als Kandidat seiner Partei für das höchste Regierungsamt. Der Stil seiner Reden schimmerte schon immer leicht ins Salbungsvoll-Pathetische hinüber, aufgelockert durch eine Gabe zur raschen, mitunter allzu windschlüpfigen Formulierung, manchmal von munterem Witz gepfeffert, doch alles in allem fast immer zu flach.

Nein, auf den Mund gefallen war dieser Sohn Ostpreußens gewiss nicht. Die schwere Zunge, die man seinen Landsleuten nachsagt, war ihm erspart geblieben. Vielleicht kam ihm die Herkunft aus der katholischen Minderheit im Ermsland zugute, deren Kinder in der stockprotestantischen Provinz früh lernen mussten, sich ihrer Haut zu wehren. Zum anderen sagte man von ihm, dass ihm der Ministrantendienst zeitlebens nachhänge: die Neigung zu gern gespielter Devotion und zur öligen Glätte. Damals begannen die Pressemenschen den Rufnamen Rainer niemals ohne den zweiten Taufnamen Candidus zu nennen, stets mit einem ironischen Schnalzer. Barzels Pathos forderte, es lässt sich nicht leugnen, oft genug zum Spott heraus. Vor allem wenn er sich gegen die Ostpolitik Willy Brandts mit nationalem Brustton ins Zeug warf.

Man mochte sich fragen, ob der überpatriotische Eifer sich nicht auch aus dem Erbe der katholischen Diaspora erkläre. Bismarck, der Reichsgründer, hatte in seinem „Kulturkampf“ den katholischen Landsleuten im preußisch-protestantisch geprägten Kleindeutschland einen nationalen Minderwertigkeitskomplex einzutrichtern versucht, der ihnen durch lange Generationen nachhing. Barzel wollte sich, guter Ostpreuße, der er war, keinesfalls nachsagen lassen, dass er das Heimatrecht der fünfzehn Millionen Vertriebenen preisgegeben habe. Er bestand darauf, wohl nicht ganz grundlos, dass der nationale Widerstand gegen die neue „Erfüllungspolitik“ niemals der antidemokratischen Rechten zufallen dürfe. Darin war er ein Erbe Kurt Schumachers, der sich geschworen hatte, die nationale Resistenz gegen die Siegermächte durch seine Sozialdemokratie zu okkupieren und damit gleichsam demokratisch zu zähmen. Der linksnationale Märtyrer hatte es seiner Partei sogar untersagt – man nahm es damals mit Kopfschütteln zur Kenntnis –, die bundesdeutsche Mitgliedschaft im Europarat zu akzeptieren, um (wie er meinte) den Anspruch auf die Wiedervereinigung nicht zu kompromittieren. Just dieser Vorbehalt bestimmt das (anfängliche) Nein Barzels und seiner Partei zum sogenannten Grundlagenvertrag, mit dem eine Anerkennung des zweiten deutschen Staates vollzogen wurde.

Der Widerstand gegen die faktische Bestätigung der Zweiteilung Deutschlands hatte die Passionen nicht nur im Bundestag, sondern im ganzen Bürgervolk der Bundesrepublik in einem nie gekannten Maße mobilisiert. Überläufer aus den Reihen der SPD und der FDP ließen es mehr als fraglich erscheinen, ob das Gesetz jemals in die Wirklichkeit übersetzt werden könne. Rainer Barzel und seinen Strategen schien dies der gegebene Augenblick, den Sturz der Regierung Brandt/Scheel durch das sogenannte „konstruktive Misstrauensvotum“ zu versuchen: Die Opposition wollte ihn endlich auf den Schild des Kanzleramtes wuchten. Reden von einer Leidenschaft, wie sie das Hohe Haus nie zuvor erlebte (Walter Scheel hielt die beste Rede seines Lebens), sollten auch dem letzten Hinterbänkler deutlich machen, dass um das deutsche, das europäische Schicksal, womöglich um Krieg und Frieden, wenigstens um die Wende im Kalten Krieg gewürfelt wurde. Am 27. April 1972 verfehlte Rainer Barzel die absolute Mehrheit um zwei Stimmen. Tosender Jubel der Sozialdemokraten und Freien Demokraten, in den Willy Brandt nur mit einem verhaltenen Lächeln einstimmte. Fassungslosigkeit bei den geschlagenen Christdemokraten. Nur Herbert Wehner und sein ergebenes Faktotum Karl Wienand wussten, wie anzunehmen ist, dass mindestens eine der beiden Stimmen der CDU und CSU von der Stasi gekauft worden war, die damit das Überleben der sozial-liberalen Koalition auf ihrem Konto verbuchen konnte. Es nutzte den Tschekisten in Ostberlin und ihren moskowitischen Oberherren am Ende wenig.

Die Mehrheit, die keine war, transformierte Willy Brandt im November 1972 in einem Wahlkampf von beispiellosem Elan zum schönsten Triumph, der seiner Partei jemals zuteil geworden ist. Auch im siebten Deutschen Bundestag übernahm Rainer Barzel noch einmal den Vorsitz der Fraktion. Doch als sechs Monate später seine Partei beschloss, gegen den Beitritt der Bundesrepublik zu den Vereinten Nationen (gleichzeitig mit der DDR) zu stimmen, trat er von seinem Amt zurück. Eine knappe Woche später legte er auch den Vorsitz seiner Partei nieder. Dank seiner Stimmenthaltung und der seiner besonnenen Freunde konnte der Grundlagenvertrag mit der DDR passieren.

Das war die Stunde des Staatsmannes Rainer Barzel. Im Verzicht zeigte er eine Größe, die ihm keiner der Spötter in den Reihen der Koalition und besonders nicht auf den Bänken der parlamentarischen Korrespondenten und in den Redaktionsbüros zugetraut hätte. Er bewies jene moralische Qualität erst recht, als die erste Frau starb, dann auch die zweite, dann seine Tochter aus dem Leben schied.

Der „Große Brockhaus“ von 2001 widmete ihm achtzehn ärmliche Zeilen ohne Bild. Gerstenmaier immerhin zweiundzwanzig Zeilen mit Bild. So gehen wir mit dem Gedächtnis unserer großen Demokraten um.