Leben im großen Nichts

Die ungarische Puszta ist eine Projektionsfläche für westliche Melancholie. Aber sie bietet auch einen sicheren Lebensraum für bedrohte Tiere wie das Przewalski-Pferd und alte Haustierrassen. Eine Fahrt durch die karge Ebene

Die Menschen kommen mit dem klar, was es hier gibt: Fleisch und Schnaps

von BEATE WILLMS

Ist das karg und öde! Nur Fläche und Weite. So viel Himmel gibt es nur in der Steppe und auf dem Meer. „Das hier ist etwas für Idealisten“, sagt János Világosi. Er kennt das Staunen, das Fremde überfällt, die zum ersten Mal in die große Tiefebene im Osten Ungarns kommen. Der studierte Landwirt arbeitet in Hortobágy, dem ältesten und größten Nationalpark des Landes – und er versucht seit Jahren, die Region Touristen näher zu bringen.

Puszta nennen die Menschen, die hier leben, die Landschaft. Puszta bedeutet Nichts. Die Dörfer liegen so weit auseinander, dass die Namen problemlos auf der Landkarte Platz finden. Auch wenn sie so lang sind wie Hódmezovásárhelykutasipuszta, die Bahnstation, von der Lilo Pulver in „Ich denke oft an Piroschka“ ihrer Urlaubsliebe hinterher winkt. Nicht umsonst hat Ungarn eine der höchsten Selbstmordraten der Welt. Nur hier konnte die Legende „Szomorú Vasárnap“ entstehen: Der ungarische Pianist Rezso Seress komponierte das Lied vom „Traurigen Sonntag“ 1933 so herzzerreißend traurig, dass Hunderte ihrem Leben selbst ein Ende setzten. In Ungarn durfte es lange nicht gespielt werden.

„Ach“, János winkt ab. „Geschichten!“ In der heutigen Puszta geht es nicht so melodramatisch zu, eher still und leise. Die jungen Ungarn verlassen die Dörfer – weg aus dem Osten, wo nur noch die gut bewachte Grenze zur Ukraine kommt. Arbeit gibt es kaum noch, seit Ungarn wegen des EU-Beitritts weite Teile seiner Landwirtschaft stilllegen musste. Auch Carl Zeiss verlagert gerade die Fertigung von Mátészalka nach Mexiko.

Dass man den Dörfern die 40 Prozent Arbeitslosigkeit nicht ansieht, ist dem Hochwasser von 2000 zu verdanken, das die sozialistischen Klötze wegspülte. Mit den Entschädigungen bauten die Leute hübsche neue Häuschen und tünchten sie weiß. „Die Menschen kommen mit dem klar, was es gibt“, meint János. Jeder hat sein eigenes Obst und Gemüse, oft auch seinen eigenen pálinka, den allgegenwärtigen Zwetschenschnaps – und ist damit sehr freigiebig.

János: „Der Tourismus ist die große Hoffnung.“ Immerhin hat Debrecen, die größte Stadt der Region, neuerdings sogar einen zivilen Flughafen. Am längsten haben sich die Forscher im Nationalpark Hortobágy gegen die touristische Erschließung gesträubt. „Die Puszta ist eine in Europa einmalige und ökologisch sensible Landschaft.“ Keine natürlich gewachsene, sondern das Ergebnis jahrhundertelanger Verwüstungen und Wiederbelebungen. Erst das Versprechen, den Tourismus umweltbewusst zu entwickeln, hat die Ökologen überzeugt. Sie wollen nun einen Wildpark einrichten.

„Im Nationalpark selbst müssen manche Gebiete geschützt bleiben“, erklärt János. Etwa im Rahmen des Arterhaltungsprogramms für das Przewalski-Pferd. Das letzte Wildpferd ist in seiner Heimat, dem Süden der Mongolei, seit den Siebzigerjahren ausgestorben. Überlebt hat es nur in westeuropäischen Zoos. Nun soll es übergangsweise in Hortobágy ausgewildert werden. Denn damit die spätere Wiedereinbürgerung in die Mongolei erfolgreich sein kann, müssen die Biologen wissen, wie sich die Tiere ohne menschlichen Einfluss verhalten. „In der Steppe kann man jedem Pferd folgen“, sagt Viola Kerekes, die das europäische Projekt leitet. Die ständige Beobachtung soll auch sicherstellen, dass sich die Gene mischen. Denn die Przewalski-Pferde haben ein Inzuchtproblem. Alle Zootiere stammen von nur 13 Pferden ab. „Deshalb gibt es ein europaweites Zuchtbuch“, sagt Viola. „Dort vermerken wir jede Veränderung.“ Und manchmal handeln sie auch: Eins der ersten Pferde, das hier geboren wurde, war ein gelbes Hengstfohlen. „Almos“ nannten es die Biologen. Das ungarisch-deutsche Wörterbuch kennt dafür die Übersetzung „schläfrig“. Aber in der ungarischen Mythologie bedeutet es „Der aus dem Traum Geborene“ und meint den sagenhaften Gründer Ungarns. Eine ähnlich bedeutende Rolle erhoffte sich die Biologin von dem Fohlen – auf jeden Fall viele Nachkommen. Leider hatten in Almos’ Familie auch Hauspferde hineingeschnüffelt. Während nach ihm geborene Hengste längst ganze Haremsgruppen mit etlichen Stuten und Fohlen um sich scharen, führt Almos mit nun acht Jahren die größte Junggesellengruppe in Hortobágy an – mit zwei Jahren wurde er kastriert.

Anders als die Przewalski-Pferde haben die Graurinder hier ihre alte Heimat wiedergefunden. Jahrhundertelang bestimmten große Herden der massigen Tiere, deren Kennzeichen meterlange gebogene Hörnern sind, das Bild der Steppe. Dann kamen moderne Rinderrassen, die sich nicht von der Stelle bewegten und nur die halbe Zeit brauchten, um ihr Schlachtgewicht zu erreichen. Das Glück der Graurinder war der Nationalpark. „Tiere sind die besten Landschaftspfleger“, sagt Hortobágy-Direktor István Sándor: Sie fressen das harte Pusztagras, treten den Boden fest und ziehen Insekten und Kleinstlebewesen an.

Inzwischen garantiert aber auch der westeuropäische Bioboom den Erhalt der Rasse. Die paar Hundert Tiere im geschützten Teil von Hortobágy dienen nur als Genbank. Aber auch über die landwirtschaftlich genutzten Flächen der Puszta ziehen wieder Hirten mit ihren Herden.

Auch Zackelschafe und Wollschweine gehören zum Arterhaltungsprogramm. Die Wollschweine sichern sogar eine spanische Spezialität: Sie werden exportiert und dann zu Serranoschinken verarbeitet. „Ihre eigenen Schweine haben die Spanier ausgerottet“, sagt János.

Auch die Bauern in der Puszta nutzen die Erfolge des Nationalparks. Bereits Sándor Husztis Großvater hatte einen Hof mit sieben Hektar Land, der dann in einer LPG aufging. Sándor selbst begann als Lastwagenfahrer und fing erst nach der Wende mit der Landwirtschaft an. „Ich wollte etwas Ruhigeres machen“, sagt er. „Deshalb habe ich auf die alten Rassen gesetzt.“ Heute hat er eine gewaltige Biofarm aufgebaut, 300 Hektar Weideland gehören ihm selbst, weitere 600 hat er vom Nationalpark gepachtet. Ruhe hat er nicht, denn auch Biolandwirtschaft bedeutet vor allem: rechnen. Wenn die Kalkulation „Pro Kuh ein Kalb und die Subvention“ aufgeht, kommt er hin. Mehr sogar. „Bio bringt zehn Prozent mehr als konventionelle Landwirtschaft.“

Sándor liebt seine Tiere. Und er liebt ihren Speck, den er räuchert und in fingerlangen glänzenden Stücken neben Salami serviert, die ist so mürbe, dass sie gleich auseinander fällt. Die Pusztamelancholie ergreift einen wie János erst nach dem fünften oder sechsten pálinka. Und dann dauert sie höchstens bis zum nächsten Morgen.