„Der will nur noch seine Ruhe“

Der „Bremer Taliban“ Murat Kurnaz wird auch in Freiheit eine schwere Zeit haben

VON ASTRID GEISLER

„Gott sei Dank geht es mir gut“, schrieb Murat Kurnaz im Frühjahr 2002 auf einer Postkarte aus Guantánamo, „aber nur Gott der Schöpfer weiß, wann ich zurückkomme“. Selbst Gott der Schöpfer dürfte nicht geahnt haben, welches Martyrium dem Azubi aus Deutschland bevorstand. Mehr als viereinhalb Jahre, fast ein Viertel seines Lebens, haben die USA den Bremer mit türkischem Pass in ihrem Lager auf Kuba weggesperrt, degradiert zum Gefangenen JJJFA. Seine Mutter Rabiye wollte zuletzt keinem mehr trauen, der prophezeite: Er kommt zurück! Sie glaube das erst, sagte sie der taz, „wenn ich ihn im Arm halte“.

Gestern nun war es so weit. Am Abend landete Kurnaz auf dem US-Stützpunkt Ramstein in Rheinland-Pfalz . Dies teilte sein Anwalt mit. Zuvor hatte Außenminister Frank-Walter Steinmeier bekannt gegeben, die Verhandlungen mit Washington seien „erfolgreich zu Ende gebracht“. Der Bremer Anwalt der Familie kündigte für heute eine Pressekonferenz an. Die „Übergabe“ selbst solle „in privater familiärer Atmosphäre ohne Kameras erfolgen“.

Seit Tagen hatten die Familie und ihr Anwalt alles vorbereitet für diesen Moment. Die Mutter räumte Murats Zimmer auf, daheim in Bremen-Hemelingen, bestellte Essen für ihn. Rechtsanwalt Bernhard Docke engagierte Fachleute für die psychologische Betreuung. Er war sicher: Murat Kurnaz werde traumatisiert aus dem Lager heimkehren. Keiner wisse, wie der junge Mann mit dem „extremen Wechsel aus der Isolation zurück ins Leben“ klarkomme, sagte er der taz: „Er muss jetzt erst einmal realisieren, was passiert ist.“ Kurnaz werde „Schwierigkeiten genug haben, sein Leben hier wieder aufzunehmen“.

Was der 1982 in Bremen geborene Sohn türkischer Einwanderer in Pakistan, Afghanistan, auf Kuba erlebt hat – so genau weiß das niemand. Nur 22 Tage nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 flog er nach Pakistan. Die Eltern ahnten nichts von dem Trip. Neunzehn war Kurnaz damals, Schiffbau-Lehrling, frisch vermält mit einer Türkin und offenbar verzweifelt auf der Suche nach einem Sinn für sein Leben. Seine Mutter hat offen über die Orientierungslosigkeit und die religiöse Fanatisierung ihres Sohnes berichtet. Wie ernst er das Beten nahm, sich den Bart immer länger wachsen ließ, der Familie schließlich vorschlug, nach Pakistan auszuwandern. Deren sinngemäße Reaktion: Bist du verrückt?

Eine Suche nach Sinn

Was Murat selbst am 3. Oktober 2001 nach Pakistan trieb, bleibt nebulös. Auf Pilgerfahrt habe er sich begeben, versicherte er Ermittlern. Womöglich wollte sich Kurnaz auch zum Kämpfer ausbilden lassen. Dazu, sagt Anwalt Docke, sei es aber nicht gekommen. Seine Recherchen ergaben: Ende 2001 wird Kurnaz in Pakistan festgenommen, nach Afghanistan transportiert, schließlich nach Kuba deportiert. Seit Januar 2002 saß er dort, eingestuft als „feindlicher Kämpfer“. Zwar urteilte auch ein ziviles US-Gericht, es gebe keine Beweise, dass Kurnaz „ein Selbstmordattentat plante, den bewaffneten Kampf gegen die Vereinigten Staaten aufnehmen wollte oder sonst wie beabsichtigte, amerikanische Interessen anzugreifen“. Doch die US-Regierung ließ das nicht gelten.

Für die Eltern in Bremen wuchs mit jedem Tag der Gefangenschaft die Sorge: Was würde das Lager aus ihrem Sohn machen? Im Herbst 2004 durfte ein US-Anwalt den Gefangenen erstmals besuchen, Details der Gespräche sind bis heute gesperrt. Laut amnesty international (ai) berichtete Kurnaz „von Folter und grausamer Behandlung“. In Guantánamo sei er sexuell gedemütigt und geschlagen worden, Wächter hätten ihn stundenlang mit den Händen auf dem Rücken am Boden festgekettet, man habe ihm tagelang nichts zu essen gegeben. Die Menschenrechtsorganisation hält die Aussagen für glaubwürdig.

Anwalt Docke hat seinen Mandanten nie sehen dürfen, kein Wort mit ihm gewechselt. Sein Bild des jungen Mannes, in dessen Namen er gemeinsam mit Rabiye Kurnaz persönlich in Berlin, Straßburg und Washington vorsprach, blieb ein Mosaik aus Erzählungen anderer.

Die Zukunftsperspektiven des inzwischen 24-jährigen Murat Kurnaz in seiner deutschen Heimat dürften nun entscheidend auch von dessen eigenem Verhalten abhängen. Deutsche Behörden ließen zuletzt ihre Sorge durchblicken, Kurnaz könnte sich in der Haft weiter radikalisiert haben und daher spätestens jetzt ein Sicherheitsrisiko sein. Die Staatsanwaltschaft Bremen wird das – nur vorläufig eingestellte – Ermittlungsverfahren gegen ihn wieder aufnehmen. Doch Docke erklärt seit langem: Kurnaz werde weder eine Straftat nachgewiesen werden noch werde von ihm künftig ein Risiko ausgehen.

Sein US-Kollege habe den Bremer in Guantánamo mehrfach gefragt, was er in Freiheit tun wolle, berichtete der Anwalt vor einigen Tagen der taz. Sein Resümee: „Der will nur seine Ruhe haben, wieder ein normales Leben führen.“ Ob er richtig lag, wird sich nun zeigen.