Tage des Schreckens

ODE Die Nazis ließen die Gefangenen im KZ Theresienstadt Verdis Requiem singen, um die Welt zu täuschen. Felix Kolmer half die Musik beim Überleben

Sterben werden sowieso alle, warum sollen die Häftlinge nicht singen? Das ist die Logik der SS

AUS TEREZIN ULRICH GUTMAIR

Als sich seine Tischnachbarn dem Hauptgericht widmen, isst Felix Kolmer noch langsam und mit Bedacht seine Suppe. Als der Suppenteller leer ist, wendet er sich seinem Schnitzel zu und beginnt es sorgfältig, Stück für Stück, zu schneiden. Der Rest der Gesellschaft in der Kantine des Museums Theresienstadt trinkt da schon den Kaffee.

Felix Kolmer ist 92 Jahre alt. Das Gehen fällt ihm nicht leicht, er hört nicht mehr gut, aber die Bedächtigkeit, mit der er isst, hat vermutlich nichts mit seinem Alter zu tun. Wenn er spricht, ist er hellwach: „In Theresienstadt gab es 1.000 Kalorien pro Tag, das war nicht viel, aber davon konnte man noch leben. In Auschwitz gab es 300 Kalorien pro Tag, das war zum Leben zu wenig.“ Er kann sich genau daran erinnern, wie er sich trotz der Schläge von SS-Männern auf eine verfaulte Zwiebel im Küchenabfall stürzte.

Vor über siebzig Jahren wurde Felix Kolmer mit einer Gruppe junger jüdischer Männer aus Prag nach Theresienstadt geschickt. Als sich Felix Kolmer im November 1941 am Bahnhof Mitte in Prag einfindet, weiß er noch nicht, dass er nun ein Gefangener ist. Das wird ihm erst in Theresienstadt bewusst. Ihr Aufbaukommando soll den Ort für die Aufnahme der Juden aus der annektierten Tschechoslowakei vorbereiten. Sein Abitur hat Felix Kolmer noch gemacht, bevor die jüdischen Schüler im Protektorat Böhmen und Mähren vom Unterricht ausgeschlossen wurden. Seine Mutter findet für ihn eine Lehrstelle als Tischler. Nun muss er mit seinen Kollegen zwei-, drei-, und vierstöckige Pritschen aus Holz zimmern, je nach Höhe der Räume in den Theresienstädter Kasernen. Kaiser Joseph II. ließ die Festung 1780 errichten, um Böhmen vor preußischen Heeren zu schützen.

Bald kommen die ersten Transporte an. Seite an Seite liegen die Frauen in den Frauenquartieren, die Männer in den ihren. Menschen, die eben noch bürgerliche Haushalte geführt haben, müssen jetzt in Massenunterkünften hausen. Theresienstadt hatte vorher gut 7.000 Einwohner. Im September 1942 waren in der Stadt fast 60.000 Menschen zusammengepfercht.

Wenn man heute an einem Samstagnachmittag durch Terezin geht, wie die Stadt auf Tschechisch heißt, sind die im barocken Schachbrettmuster angelegten Straßen fast menschenleer. Hin und wieder parkt ein Auto am Straßenrand. Knapp 2.000 Einwohner hat die Stadt heute. Es gibt kaum Arbeit. Die Wohnungen in den alten Häusern sind schwer zu heizen. Die ehemalige SS-Kommandantur am Marktplatz beherbergt eine Bank. Schräg gegenüber steht das alte Krankenhaus, in dem nun schwer Drogenabhängige untergebracht sind. Der einzige Minisupermarkt wird von Vietnamesen geführt.

Vom Theresienstädter Ghetto-Museum in der ehemaligen Magdeburger Kaserne sind es zwei Minuten zu Fuß zum Marktplatz. Dort betreten wir ein unscheinbares Haus. Eine Steintreppe führt nach unten, deren Stufen wohl 300 Jahre lang nicht ausgebessert wurden, so ausgetreten, wie sie sind. Zwei Ecken weiter öffnet sich ein Gewölbe. Durch die kleinen Fenster dringt wenig Licht herein. Felix Kolmer erzählt, dass hier die ersten Proben des Chors stattfanden, den Rafael Schächter im Konzentrationslager Theresienstadt leitete. Er übte mit seinen Sängern Giuseppe Verdis Requiem. Felix Kolmer ist einer der wenigen noch lebenden Menschen, die das Requiem im Lager gehört haben.

In der kommenden Woche wird in Berlin erstmals „Defiant Requiem“ des amerikanischen Dirigenten Murry Sidlin aufgeführt werden. Verdis Musik wird durch Videoclips mit Berichten von Zeitzeugen und Ausschnitten aus einem Propagandafilm ergänzt, den die Nazis in Theresienstadt gedreht, aber nie gezeigt haben. Im Zentrum der Aufführung steht Rafael Schächter.

Der junge Dirigent hat eine glänzende Karriere in Prag vor sich, als die Tschechoslowakei annektiert und er nach Theresienstadt deportiert wird. Nur zwei Partituren nimmt er mit, darunter die „Messa da Requiem“. Verdis Musik ist voller Lebensfreude, im „Dies irae“, der Totensequenz, klingt sie aber wie eine mächtige Drohung. Verdi vertonte auch das „Libera me“ aus der katholischen Begräbnisfeier: „Rette mich, Herr, vor dem ewigen Tod an jenem Tage des Schreckens, wo Himmel und Erde wanken, da Du kommst, die Welt durch Feuer zu richten. Zittern befällt mich und Angst, denn die Rechenschaft naht und der drohende Zorn.“

Rafael Schächter muss den Chor dreimal neu zusammenstellen, weil zu viele Sänger deportiert worden sind. Jedes Wort, jede Note müssen die Chormitglieder auswendig lernen. Schächter ist ein strenger Dirigent. Es gibt Leute, die es falsch finden, dass Juden an diesem Ort eine katholische Liturgie singen. Schächter aber hat die bürgerlichen Bildungsideale der europäischen Kultur verinnerlicht wie viele andere im Lager.

Die Ersten von ihnen kamen aus der Tschechoslowakei, nach der Wannseekonferenz auch aus Deutschland, Holland und anderswo. Die Deportierten aus Deutschland hat die Gestapo vorher „Heimeinkaufsverträge“ unterschreiben lassen, in denen ihnen Unterbringung, Verpflegung und ärztliche Versorgung zugesichert wurden. Das Reichssicherheitshauptamt bemächtigte sich so ihrer Vermögen. In Theresienstadt sind die Deportierten nur noch Teil eines Problems, für das laut Ansicht führender Vertreter der deutschen Kulturnation eine Endlösung gefunden werden muss.

Insgesamt lebten ungefähr 141.000 Personen in dem Sammel- und Durchgangslager, das die NS-Propaganda als „Altersghetto“ bezeichnete. 88.202 von ihnen wurden in die Vernichtungslager im Osten geschickt. Das Ende des Kriegs überlebten nur rund 4.000. In Theresienstadt selbst starben 33.456 Menschen an Hunger, Schwäche und Krankheiten wie Hirnhautentzündung und Typhus, unter ihnen Felix Kolmers Mutter. „In Theresienstadt durfte man nicht alt sein. Für die alten Leute war es gefährlich“, sagt er.

Der emeritierte Physikprofessor, der aus den Lagern nach Prag zurückkehrte, wo er sich mit Akustik beschäftigte, trägt Jeans und Parka, auf dem Kopf eine Baseball-Mütze mit dem Logo der Houston Rockets, an den Füßen schwarze Turnschuhe. Für seine Aktivitäten in einer der beiden jüdischen Untergrundorganisationen von Theresienstadt ist Felix Kolmer geehrt worden. Er freut sich darüber, aber wichtig ist ihm etwas anderes. Er hat vier Menschen vor der Deportation bewahrt, weil sie auf seiner Häftlingskarte eingetragen waren und er für die Versorgung der Küche mit Lebensmitteln zuständig war. Wenn sie trotzdem auf die Transportliste gesetzt wurden, hat er sie mit seiner eigenen Brotration herausgekauft.

In Theresienstadt muss Felix Kolmer Pritschen aus Holz zimmern – für die Häftlinge

„Was uns sehr geholfen hat, war die Kultur“, sagt er. Rafael Schächter leitet den Chor und die Arbeit an der Aufführung der Kinderoper „Brundibar“. Gedichte werden geschrieben. Es wird gemalt und gezeichnet, Zeitschriften werden veröffentlicht, über tausend Vorträge gehalten. Betstuben werden eingerichtet. Anfangs sind kulturelle und religiöse Aktivitäten verboten, später werden sie geduldet. Sterben werden sowieso alle, warum sollen die Häftlinge nicht singen? Das ist die Logik der SS. Später nutzen die Nationalsozialisten die lebendige Kultur in Theresienstadt, um einer Delegation des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zu beweisen, dass sie ein mustergültig geführtes Lager im „selbstverwalteten jüdischen Siedlungsgebiet“ besucht.

Der dänische König hat schon lange auf die Inspektion gedrängt. Er will wissen, wie es seinen 476 Landsleuten geht, die nach Theresienstadt gebracht worden sind. Als die Lagerleitung sich mit der Aktion „Stadtverschönerung“ auf den Besuch vorbereitet, kann Schächter sein Requiem sechzehn Mal aufführen, das letzte Mal während des Besuchs der Delegation im Juni 1944. „Bei der letzten Vorführung haben der Chor und Rafael Schächter das Requiem für sich selbst gesungen“, sagt Felix Kolmer. „Die SS saß dabei, und einer sagte: Es ist komisch, dass die Juden das Requiem singen und dann in den Tod gehen.“ Die Delegation verfasst einen positiven Bericht.

Da die SS zuvor befürchtet hat, das Rote Kreuz könnte auch eines der Vernichtungslager im Osten inspizieren, wurde im September 1943 in Auschwitz-Birkenau das sogenannte Familienlager eingerichtet. Die hierher gebrachten Familien aus Theresienstadt dürfen zusammenbleiben, die innere Verwaltung des Lagers wird den jüdischen Häftlingen überlassen. Sechs Monate lang werden sie von den Selektionen ausgenommen. Dann aber werden in einer Nacht 5.000 ehemalige Theresienstädter aus dem Familienlager in den Gaskammern ermordet. Manche versuchen Widerstand zu leisten. Einige singen in der unterirdischen Gaskammer „Hatikwa“, die Hymne des zukünftigen jüdischen Staates, andere die tschechische Nationalhymne und die „Internationale“. Danach trifft ein neuer Transport aus Theresienstadt im Familienlager ein.

Obwohl die Menschen nun erwarten, dass in sechs Monaten wieder gemordet wird, werden die Kinder weiter unterrichtet. Zweihundert Meter von den Krematorien entfernt erzählen die Lehrer den Kindern von der Schlacht bei den Thermopylen, als die Griechen unter der Führung des Spartaners Leonidas gegen die persischen Truppen von Xerxes I. kämpften. Das persische Heer war den Griechen weit überlegen. Leonidas beschloss, mit 300 Spartanern den Engpass der Thermopylen zu halten, um den großen Rest des griechischen Heers zu retten. Der Kinderchor übt die „Ode an die Freude“ zur Melodie von Beethoven. Kultur ist noch im Familienlager ein Akt der Selbstbehauptung, um die Integrität des Einzelnen und der Gemeinschaft zu verteidigen.

„Im Konzentrationslager musste man sich denken: Ich muss, ich werde und ich will überleben. Jeden Tag und jeden Moment. Und es war meine Aufgabe, dass ich den Leuten, die pessimistisch waren, gesagt habe: Du wirst überleben. Du bist doch nicht krank. Du wirst es aushalten. Das war meine freiwillige Arbeit“, sagt Felix Kolmer. Er war damals Pfadfinder und sei es immer noch. An seinem Gürtel hängen ein Mobiltelefon und ein Schweizer Messer. Rafael Schächter hat Felix Kolmer zuletzt nach ihrer Ankunft in Auschwitz gesehen, auf der Rampe, vor der Selektion.

■ Am 2. März widmet sich ein Symposium im Jüdischen Museum Berlin dem „Ausnahmeghetto“ Theresienstadt