Hauptstadt der deutschen Exilliteratur

„Berge, Meer und Inseln; eine herrlich geschwungene Küste; Ölbäume, Feigenbäume, Pinien“, so beschreibt Lion Feuchtwanger sein Exil in Sanary. Für ihn, Bertolt Brecht, Stefan Zweig, Thomas Mann und viele andere war das südfranzösische Fischerdorf während der NS-Zeit erste Anlaufstelle

VON TIM MAURER

Sanary liegt eingebettet zwischen dem Languedoc im Westen und der Côte d’Azur im Osten und somit in einer der schönsten Gegenden Europas. Zwischen dem Fischerhafen und der Bucht Portissol thront auf einem kleinen Hügel über den Klippen die Villa Le Moulin Gris, in deren altem Wachturm Franz Werfel während seiner Arbeit den Blick über das türkisblaue Mittelmeer schweifen ließ. Von Feuchtwangers Villa Lazare – beliebter abendlicher Treffpunkt für die Berliner, Prager und Wiener Intelligenzija – läuft man entlang der Halbinsel zur Villa La Tranquille, wo die Familie des Nobelpreisträgers Mann den Sommer 1933 verbrachte.

An der Hafenpromenade ein Stückchen weiter findet heute wie damals jeden Mittwochmorgen ein provenzalischer Markt statt. Unweit der kleinen Kirche Pénitents Blancs stand auf dem Quai Marie Esménard Nummer 8, an der Stelle des heutigen Fotoladens, das Haus Walter Bondys. Alfred Döblin, die Sängerin Fritzi Massary und die Schauspielerin Lotte Lenya weilten ebenso in Sanary wie Bruno Frank und Balder Olden. René Schickele verewigt seinen Zufluchtsort sogar in seinem Roman „Die Witwe Bosca“: Ranas-sur-Mer.

„Sanary, Hauptstadt der deutschen Literatur“, schreibt Ludwig Marcuse in „Mein Zwanzigstes Jahrhundert“, und tatsächlich wurden Sanary-sur-Mer und die umliegenden Ortschaften zum vorübergehenden Zuhause für über 500 deutsche und österreichische Künstler, Schriftsteller und Dichter. Schon vor dem Niedergang der Weimarer Republik hatten einige deutsche Intellektuelle das kleine Idyll am Mittelmeer entdeckt, das für einige Exilanten später sogar zur „heimatlichste[n] Heimat“ werden sollte. Zahlreiche bekannte Persönlichkeiten wie Stefan Zweig, Heinrich und Thomas Mann residierten hier in der Zeit von 1933 bis 1942. Für die meisten war Sanary nur eine Durchgangsstation. Eine Pause auf der Flucht vor der Verfolgung Nazideutschlands, um neue Kraft zu tanken für die beschwerliche Passage über die Pyrenäen.

„Die Landschaft rings um mein Haus ist schön und voll tiefen Friedens. Berge, Meer und Inseln; eine herrlich geschwungene Küste; Ölbäume, Feigenbäume, Pinien; ein paar verstreute Häuser.“ So beschreibt Lion Feuchtwanger das kleine südfranzösische Fischerdorf. Der Turm des Hotels de la Tour ragt noch genauso malerisch schön in den mediterran-blauen Himmel, wie ihn auch Bertolt Brecht in den 30er-Jahren erblickt haben muss.

Dass ihnen noch nicht einmal die südfranzösische Provinz genügend Schutz bieten würde, ahnte Mitte der 30er-Jahre kaum jemand. Mit einem naiven Optimismus hofften viele, in wenigen Monaten wieder in ihre deutsche Heimat zurückkehren zu können. Doch das Exil dauerte, und zum Kriegsausbruch 1939 machten sich die deutschen Schriftsteller, Maler, Schauspieler und Kabarettisten abermals auf die Flucht.

Dass die Sicherheit und Schönheit ihres Exils an einem seidenen Faden hing, beschreibt Feuchtwanger erschreckend klar in „Der Tag wird kommen“, in dem er seine Internierung im Lager Les Milles 1939/40 prophezeit, bevor ihm die Flucht in die USA gelingt. Und obwohl ihn dies zu seinem Roman „Unholdes Frankreich“ animiert, erschienen 1942 bei El Libro Libre in Mexiko, blickt er mit sehnsüchtigem Blick auf die Zeit in Sanary zurück: „… wenn ich […] mich nun in der Stille meines abendlichen Gartens erging, in welcher nichts war als das Auf und Ab des Meeres und vielleicht ein kleiner Vogelschrei, dann war ich ausgefüllt von Einverstandensein, von Glück.“