Der Weingummimann

Die Wahrheit-Lagerfeuergeschichte – mit Gruseleffekt

Ihr wisst natürlich alle, wie Weingummi schmeckt! Aber keiner von euch hat je in seinem Leben Fruchtgummis gegessen wie die aus dem Konfektladen Grönwold in Preetz. An einem einzigen Bonbon konnte man ewig lutschen, so lange, bis der Mund vor bunter Spucke überlief. Und wenn man es endlich zerbiss, schien es auf der Zunge zu explodieren – ein Feuerwerk aus sämtlichen Geschmacksrichtungen, die je ein Fruchtgummi gehabt hat, und tausend weiteren dazu.

Was Grönwolds kleine Kunden nicht verstanden: Nie öffnete der Laden vor neun Uhr, und um zwölf sperrte er ihn schon wieder zu. Wer an das beste Weingummi der Welt gelangen wollte, musste sich also in der großen Pause vom Schulhof schleichen. Deshalb hatten nur die Rowdies und Schulschwänzer immer Grönwold-Gummis in der Tasche, und sie verkauften sie zu unverschämten Preisen weiter. Am meisten Geld verdiente dabei Thomas Kresnik aus der 4c, ein wahrer Halsabschneider. Niemand mochte ihn leiden, aber weil er immer ein Tütchen Weingummi im Angebot hatte, waren alle nett zu ihm.

Eines Tages erschien Thomas nicht zur Schule. Als er auch am nächsten Tag nicht auftauchte, begannen die Kinder, sich Sorgen zu machen – nicht um ihn, sondern um den Nachschub an Grönwold-Gummi. Am folgenden Tag stand ein Streifenwagen der Preetzer Polizei vor dem Schultor, und die Schutzleute fragten jedes Kind auf dem Schulhof, ob es Thomas aus der 4c gesehen habe. Doch alle schüttelten den Kopf, denn Thomas hatte keine echten Freunde.

Nun brauchte man einen neuen Grönwold-Lieferboten, und das wurde Paul Schmidt aus der 3b. Eine Woche später verschwand auch Paul. Wieder kam die Polizei, und wieder hatte niemand eine Ahnung, was mit Paul passiert war. Sein Nachfolger im Konfekthandel wurde Christian Talheim aus der 4b. Eine Woche später war auch er wie vom Erdboden verschluckt. Von nun an stand täglich ein Streifenwagen vor dem Schultor.

Es wurde verdammt schwer, sich in der großen Pause zu Grönwold zu schleichen. Nur Bastian Bindler aus der 4c traute sich noch, denn er witterte das Geschäft seines Lebens. Bastian hatte eine Schwester namens Tina. Sie ging in die 2d, und normalerweise war ihr herzlich wurscht, was ihr „blöder großer Bruder“ trieb. Aber nun drohte sie, Bastian bei den Eltern zu verpfeifen, wenn er wirklich „so was Doofes“ machen würde. „Dann komm mit“, sagte er, und nachdem Tina eine Weile nachgedacht hatte, ließ sie sich überreden.

Durch ein Loch im Schulzaun krabbelten die beiden auf die Straße und rannten zu Grönwolds Konfektgeschäft. Als sie eintraten, bimmelte an der Ladentür ein altes Messingglöckchen. Hinter einem Glastresen voller Weingummis stand Herr Grönwold, riesengroß und dürr wie ein Besenstiel und mit kalkblassem Gesicht. „Was wollt ihr denn, ihr kleinen Schulschwänzer?“, fragte er, und seine Stimme klang wie Luft, die aus einem Loch im Fahrradreifen zischt. „W-Weingummi“, stammelte Bastian. „Ja, mein berühmtes Weingummi …“, sagte Grönwold und bleckte die Zähne. „Es ist eine Kunst, solch ein Weingummi herzustellen!“ Grönwold ging an den Kindern vorbei langsam zur Ladentür. „Und warum? Wegen der Zutaten! Gewiss: Gelatine, Zucker, Bienenwachs – das kriegt man in jeder Drogerie. Aber der Sirup! Da liegt das Problem!“

Die Kinder schwiegen, nun selbst kreidebleich wie der Weingummimann. „So viele Jahre habe ich forschen, immer wieder forschen müssen, bis ich ihn gefunden habe, den idealen Sirup!“ Grönwold lachte. Gleichzeitig drehte er den Schlüssel in der Ladentür um und steckte ihn in die linke Tasche seines weißen Kittels. Aus der rechten zog er ein entsetzlich langes Schlachtermesser.

Tina zog an der Hand ihres großen Bruders, doch der bewegte sich nicht, also rannte sie alleine los zu der kleinen Tür hinterm Tresen. Sie stolperte und stürzte eine steile Stiege hinab, und Grönwolds Lachen gellte hinter ihr her. Sie fand sich in einem feuchten, von einer Neonröhre fahlgelb beleuchteten Gewölbe wieder. Vor der linken Kellerwand sah sie zwei Kupferkessel. An der rechten Mauer standen auf langen Regalen zahllose Glasbehälter mit Pülverchen, Zucker und Gelee.

Vor der hinteren Wand baumelten an Fleischerhaken drei große Säcke von der Decke. Aus dem unteren Zipfel der Säcke ragte eine Art Zapfhahn hervor. Neugierig wie alle kleinen Mädchen drehte Tina trotz ihrer Angst eines der Ventile auf. Ein Strahl dunkelroter Flüssigkeit spritzte aus dem Röhrchen. Tina sprang erschrocken zurück – und prallte auf zwei dünne, harte Beine: Grönwold!

„Na“, sagte er fast freundlich, „da hast du wohl das Geheimnis meines Sirups entdeckt.“ Er griff an der Seite eines Sacks nach einem Reißverschluss, zog ihn langsam auf … Und da erkannte Tina das Gesicht von Paul Schmidt. Der Junge hing kopfüber, scheinbar schlafend, im Gummisack, und der Zapfhahn steckte tief in seinem Hals.

„Blut!“, rief Tina, „Sie nehmen Blut für Ihren Sirup!“ – „Stimmt“, sagte Grönwold, „aber es muss schon das Blut von Kindern sein. Und das allersüßeste, das bekomme ich von Schulschwänzern. Von Drückebergern wie dir!“ Tina sah im Neonschein das riesige Schlachtermesser gelb aufblitzen, und danach sah sie nie wieder etwas.

Am nächsten Tag klebte in Grönwolds Schaufenster ein Schild mit dem Wort „Geschäftsaufgabe“. Wo Grönwold heute steckt, weiß man nicht. Er kann überall sein. Und vielleicht eröffnet er gerade jetzt, auf eurem Schulweg, einen neuen Konfektladen.

KAY SOKOLOWSKY