„Wir werden durchhalten und siegen!“

AUFSTAND Trotz Schockzustand nach den Straßenschlachten mit mindestens 25 Todesopfern halten in Kiew die Proteste gegen die Regierung von Präsident Janukowitsch an. Auch Politikern der Opposition traut man kaum

■ Der 32-jährige Reporter der Tageszeitung Westi, Wiatscheslaw Weremij, ist in der Nacht zum Mittwoch nach stundenlangen Notoperationen in einem Kiewer Krankenhaus gestorben. Nach Angaben seiner Zeitung hatten ihn mehrere Maskierte in Tarnkleidung angegriffen, als er zusammen mit einem Computerspezialisten des Blattes in einem Taxi auf dem Heimweg war. Die Angreifer warfen Molotowcocktails auf das Auto, zerrten die Insassen heraus und schlugen auf sie ein. Offenbar konnte sich Weremij zunächst losreißen und davonlaufen, wurde aber nach wenigen Metern in den Rücken geschossen.

■ In der Ukraine wurden noch nie so viele Angriffe auf Journalisten in einem Monat dokumentiert wie im Januar: Insgesamt zählte das Institut 82 tätliche Angriffe. Im gesamten Jahr 2012 waren es 65 Fälle gewesen. Auf der Rangliste von Reporter ohne Grenzen steht die Ukraine auf Platz 127 von 180 Ländern. (cja)

AUS KIEW ANDREJ NESTERKO

Kiew steht unter Schock. Nach den blutigen Ereignissen von Dienstagnacht, bei denen es 25 Tote gab, ist das Zentrum der Stadt ein einziges Schlachtfeld. An einigen Stellen sieht man Blut auf dem Boden. Es wird schnell vom schwarzen Staub der brennenden Autoreifen verdeckt. Der giftige Plastikgeruch beißt in den Augen. Das Atmen fällt schwer.

Trotzdem halten sich auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz immer noch Menschen auf. Die Protestler erwarten bald mehr Unterstützung. Demonstranten aus dem ganzen Land sind bereits auf dem Weg nach Kiew. Obwohl die Regierung die Grenzen Kiews hat schließen lassen, finden immer wieder einige Busse mit Protestlern den Weg in die blockierte Stadt.

Die Regierung tut alles, um den Straßenverkehr zu kontrollieren. Bereits seit zwei Tage ist die U-Bahn geschlossen, viele Ampeln wurden abgeschaltet. Zwei Kilometer im Umkreis des Maidan patrouillieren Verkehrspolizisten, sogenannte Gaischniki. Kleinere Straßen werden von bewaffneten Sicherheitskräften überwacht. Auf der Gruschewskistraße, in der Diensttagnacht die Überreste der Barrikaden entfernt wurden, errichteten Sicherheitskräfte nun eine Wand aus Stahl und Beton.

Die Aktivisten haben mittlerweile das Kiewer Rathaus erneut besetzt, nachdem es am Sonntag geräumt worden war. Im ersten Stock erhält man Lebensmittel, die von Kiewern gespendet worden sind. Es gibt auch ein medizinisches Lager, in dem Freiwillige Verletzte behandeln und Medikamente ausgeben.

„Wenn wir wenigstens einen Politiker hätten, der Präsident Wiktor Janukowitsch ersetzen könnte! Aber unsere Politiker sind alle impotent“

ELENA AUS KIEW

Auch Gotteshäuser bieten den Demonstranten Zuflucht. In der Michailowskij-Kirche operieren Ärzte Verletzte auf improvisierten Tischen. Nur Schwerverletzte werden ins Krankenhaus eingeliefert. Die Menschen haben Angst vor den Spezialeinheiten der „Berkut“, die verletzte Aktivisten in den Krankenhäusern abfangen und verhaften, egal in welchem Zustand diese sind.

Dienstagnacht starb der erste ukrainische Journalist an den Folgen einer Schussverletzung. Der 32-jährige Wjatscheslaw Weremij schrieb für die ukrainische Zeitung Westi.

„Slawa und ich haben zusammen studiert. Er war immer ein Optimist und voller Hoffnung, dass alles gut wird. Er konnte Menschen inspirieren und sie unterstützen. Er musste den Dingen immer auf den Grund gehen“, sagt Marina Leontschuk, eine Freundin des Getöteten. „Wir werden durchhalten und am Ende siegen! Ich bin mir sicher, Slawa hätte das Gleiche gesagt.“

Ljuba ist Putzfrau. „Ich wohne sehr weit weg von meiner Arbeit, deswegen war es sehr schwer, heute herzukommen. Die öffentlichen Verkehrsmittel waren alle geschlossen. Wenn die Regierung aber denkt, dass uns das an den Protesten hindern wird, dann hat sie sich getäuscht. Janukowitsch hätte die Menschen erhören und friedlich zurücktreten müssen. Jetzt ist es dafür zu spät! Ich verstehe die Menschen, die sagen, sie sterben lieber auf dem Unabhängigkeitsplatz, als dass die Regierungsmacht gewinnt, die die Leute aussaugt wie Blutegel, sagt sie.

■ Vorschlag: Linken-Fraktionschef Gregor Gysi hat den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) als Vermittler im Ukrainekonflikt vorgeschlagen. Nötig sei jemand, der bei Putin Gehör finde, so Gysi. Doch Schröder lehnte ab: Die Aufgabe könne „keine Einzelperson“ übernehmen.

■ Rückstau: Unterdessen haben etwa 300 Menschen den polnisch-ukrainischen Grenzübergang Korczowa-Krakowiec aus Solidarität mit den Regierungsgegnern in Kiew blockiert. Unweit der EU-Außengrenze errichteten sie auf ukrainischer Seite eine Blockade. Auf der Straße und an der Blockade brannten aufgestapelte Reifen. Die ukrainischen Grenzschützer stellten die Grenzabfertigung ein. (dpa)

„Wer braucht diesen Konflikt?“, erregt sich Elena. „Wenn wir wenigstens einen Politiker hätten, der Präsident Wiktor Janukowitsch ersetzen könnte! Aber unsere Politiker sind alle impotent. Unser Leben wird auch nicht besser durch einen Präsidentenwechsel, und am Ende leiden die einfachen Leute! Die tun mir leid, und sie sind dumm, an schöne Versprechungen zu glauben. Am aktuellen Blutvergießen ist aber nicht nur die Opposition schuld, sondern auch die Regierung.“

Niemand weiß, was die kommende Nacht bringen wird. Die Sicherheitskräfte agieren meist im Verborgenen. Die Gespräche zwischen Regierung und Opposition haben bisher keine Ergebnisse gebracht. Viele Ukrainer haben den Eindruck, dass niemand mehr die Situation kontrolliert. Die Proteste haben sich mittlerweile auf das ganze Land ausgeweitet. In vielen Städten kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen, Büros der Regierungsparteien brennen. Die Armee ist bereit zum Kampf. So scheint es jedenfalls …

Aus dem Russischen von Ljuba Naminova