Der Kaffeesatz der Kriminalprognosen

Bei Gericht steigt die Nachfrage nach Gutachten. Dabei sind Vorhersagen über die Gefährlichkeit von Tätern oft unzutreffend

BERLIN taz | Der Statistiker Walter Krämer von der Universität Dortmund sagt: Prognosen funktionieren vortrefflich, wenn sie die Gegenwart voraussagen dürfen. Das ist bei Kriminalprognosen, die ein Urteil über etwas nicht Alltägliches fällen müssen, nämlich darüber, ob ein Mensch gefährlich ist und eine Straftat begehen wird oder eben harmlos bleibt, deutlich von Nachteil. Kriminalprognosen zeichnen sich zudem durch eine tautologische Eigenschaft aus: Fallen sie für einen Inhaftierten negativ aus, dann bestätigen sie sich automatisch. Denn wenn ein Gerichtsgutachter sagt: „Sollte dieser Gefangene in die Freiheit entlassen werden, dann begeht er mit hoher Wahrscheinlichkeit eine schwerwiegende Straftat“, dann bleibt der Straftäter ja im Gefängnis. Seine Ungefährlichkeit kann er also nicht unter Beweis stellen. Sind Kriminalprognosen dann überhaupt zuverlässig?

1966 stellte der Oberste Gerichtshof der USA fest, dass Johnnie Baxstrom zu unrecht als geistig umnachtet beurteilt und im State Hospital New York weggesperrt wurde. Er und weitere 967 als hochgefährlich begutachtete Straftäter mussten freigelassen werden. Sie galten als die gefährlichsten Verbrecher des Staates. Zu unrecht: Je nach Berechnung blieben 90 bis 97,5 Prozent nach der Freilassung völlig unauffällig. Gilt das auch für heute und auch für Deutschland? Der Jurist und Psychologe Michael Alex hat in diesem Jahr eine Studie vorgelegt, die die Kaffeesatzleserei bei Kriminalprognosen belegt. Alex untersuchte Fälle, in denen zwischen 2001 und 2006 die Sicherungsverwahrung nachträglich angeordnet wurde. Wegen obergerichtlicher Entscheidungen kamen die Männer aber nicht in Haft, sondern in Freiheit. Er vergleicht diese als hochgefährlich eingestuften Täter mit Daten des Bundeszentralregisters. Bei insgesamt 65 Prozent der Täter kommt es zu keiner Eintragung im Strafregister. Demnach müssen in diesem Fall statistisch 20 Mal so viele ungefährliche Täter eingesperrt bleiben, um tatsächlich gefährliche Täter dingfest zu machen. „Vor diesem Hintergrund verwundert es umso mehr, welch großes Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Aussagen von Sachverständigen bis hoch zum Bundesverfassungsgericht, der Politik und der Öffentlichkeit besteht“, erklärt Alex. Vergleichbare Ergebnisse belegen auch Studien des Tübinger Strafrechtsprofessors Jörg Kinzig.

Dennoch gibt es immer mehr Gerichtsgutachten. Die Ausweitung beginnt etwa im August 1996. Der Fall des belgischen Kinder-Mörders Marc Dutroux erschüttert die Welt, wenig später wird in Deutschland von einem vorbelasteten Täter die sechsjährige Kim getötet. Damit beginnen die Gesetzesverschärfungen. Zudem werden auch immer mehr Täter als psychisch krank definiert. Die Zahl der Straftäter im Maßregelvollzug stieg von 2003 bis heute um 20 Prozent, seit 1980 hat sie sich verdreifacht. Die Zahl der Sicherungsverwahrten steigt im gleichen Zeitraum um 41 Prozent auf 524 Fälle. Gutachter haben so viel zu tun, dass der Forensiker Norbert Nedopil davon spricht, dass es gar nicht mehr genügend qualifiziertes Personal für Gutachten gibt. KAI SCHLIETER