Besetzen bis zum Baustopp

STUTTGART 21 Zu Beginn der Abrissarbeiten klettern Gegner auf das Dach des Hauptbahnhofs, Spezialkräfte holen sie herunter. Bis zu 30.000 Menschen demonstrieren in der ganzen Stadt

„Was hier passiert, ist eine Provokation der Bürger“

GANGOLF STOCKER, BÜNDNIS GEGEN S 21

AUS STUTTGART NADINE MICHEL

Ein Spezialkräfte-Kommando der Polizei hat gestern Nachmittag das Dach des Stuttgarter Hauptbahnhofs geräumt. Die Demonstranten, die das Dach besetzt hatten, wollten ursprünglich so lange bleiben, bis Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) den sofortigen Baustopp erkläre.

Bereits am Mittwoch machten die Demonstranten ihrer Empörung, Wut und Enttäuschung über die Abrissarbeiten Luft. Manche Bürger konnten es schlichtweg nicht fassen, als sie zusehen mussten, wie der Bagger die Grundfeste ihres Bahnhofs einriss. In Stuttgart war am Mittwoch der befürchtete Tag X gekommen. Die massiven Abrissarbeiten am Nordflügel zugunsten des Milliardenprojekts „Stuttgart 21“ hatten begonnen. Innerhalb kürzester Zeit füllte sich daraufhin der Bahnhofsvorplatz mit hunderten Demonstranten.

Die Seitenflügel müssen weichen, weil der oberirdische Kopfbahnhof unter der Erde verschwinden soll. In 33 Kilometer langen Tunneln sollen Gleise verlegt werden. Ein gigantisches Vorhaben, das nach offiziellen Angaben 4,1 Milliarden Euro verschlingen wird.

Nun also sollten am Mittwoch Fakten geschaffen werden, um der von den Projektplanern immer wieder betonten Aussage, das Projekt sei „unumkehrbar“, noch mehr Gewicht zu verleihen. „Was hier heute passiert ist, ist eine Provokation der Bürger“, sagte Gangolf Stocker vom Bündnis gegen Stuttgart 21 bei der improvisierten Kundgebung am Mittwochabend. Der Protest werde nicht nachlassen. Das bewiesen sie gestern, als der Protest mit mehreren hundert weiterging.

Erbost zeigen sich die Gegner auch darüber, dass der Kommunikationschef von Stuttgart 21, Wolfgang Drexler (SPD), noch vor wenigen Wochen angekündigt hatte, die Fassade werde Stein für Stein abgebaut, damit die wertvollen Quadersteine aus Muschelkalkstein weiterverwendet werden können. Stattdessen habe der Abrissbagger mit brachialer Gewalt die Fassadensteine in Schutt und Asche zertrümmert, kritisierte Gerhard Pfeifer vom Umweltverband BUND.

Der Protest spielte sich jedoch nicht nur auf dem Bahnhofsvorplatz ab. Kurz vor der Kundgebung gelang es am Mittwoch sieben Demonstranten, auf das Dach des Nordflügels zu klettern. Unter tosendem Applaus der Masse befestigten sie ein Plakat mit einem „Gruß“ an den Stuttgarter CDU-Oberbürgermeister: „Brandstifter Schuster – Raus aus dem Rathaus“.

Eine Stunde später folgte die zweite Aktion, die die Masse aufjubeln ließ. Eine Gruppe von Demonstranten hatte mit einer Gleisblockade die Abfahrt des TGV Richtung Paris behindert. Er fuhr mit einer Verspätung von 45 Minuten, allerdings mit Protestaufklebern verziert, ab. Seit dem Nachmittag legten zudem zahlreiche Demonstranten vielerorts den Verkehr lahm. Den autofreien Asphalt nutzten sie, um Federball zu spielen, Musik zu machen oder Comics zu lesen, wie zwei Kinder auf einer Fußgängerinsel.

In den Augen der Polizei haben die Proteste jedoch „ihren friedlichen Charakter verloren“. Rettungskräfte seien behindert und Besucher eines Weinfestes mit Eiern beworfen worden. Eine Gruppe von Straßenblockierern habe Flaschen geworfen. Die Angaben, wie viele Demonstranten es insgesamt waren, gehen weit auseinander. Die Organisatoren sprachen von 20.000 bis 30.000, die Polizei kam auf 6.000.