Ein Guide ist immer dabei

Der Wüstenstaat Libyen setzt auf Schmusekurs mit dem Westen, auf Tourismus, Kultur- und Wüstenreisen. Doch die Öffnung nach innen scheint inszeniert: Eine Reise entlang der libyschen Küste zur Antike in Sabratha, Leptis Magna und Tripolis

Ihnen fehlt noch der Sinn für die Gastronomie“, meint der marokkanische Restaurantbesitzer

VON RENATE FISSELER-SKANDRANI

Frühstück gegen sieben in einem Straßenrestaurant bei Sabratha, etwa 80 Kilometer von der tunesischen Grenze entfernt. Auf dem Tisch stehen Butter-, Marmelade und Käseportionen, alles importiert aus Tunesien. Ob das Ei, das ich nicht esse, libyscher Herkunft ist? Der Kellner ist bemüht und zuvorkommend. Er ist Tunesier. Dass zahlreiche Marokkaner, Tunesier und Ägypter im Restaurantgewerbe tätig sind, als Kellner und als Restaurantbetreiber, ist in Libyen nicht zu übersehen. „Ihnen fehlt noch der Sinn für die Gastronomie“, meint schmunzelnd der marokkanische Besitzer eines Restaurants. Sechs Millionen Einwohner hat Libyen, darunter mehr als eine Million Arbeitsmigranten.

Ich fahre mit einem tunesischen Reiseveranstalter eine Woche durch Libyen. Ein Libyer ist unser Begleiter, zwei weitere Männer steigen in den Bus. Die beiden sind Tourismuspolizisten. Sie werden während der einwöchigen Reise mitfahren und nichts anderes tun, als bei wiederholten Polizeikontrollen Kopien der Liste mit den Namen und Passnummern der Reiseteilnehmer aus dem Fenster zu reichen. Sie haben aber auch ein wachsames Auge auf uns.

Ihr Guide revolutionaire ist überall. Auf großflächigen Plakaten, links oben die Zahl 36 – mit erhobenem Kinn, ein braunes Tuch in der Art der Beduinen um das Haupt geschlungen – seinen sonnenbebrillten Blick über sein Volk hinweg auf das verheißene Ziel gerichtet. 36 Jahre Gaddafi-Revolution gilt es in der „Dschamahirija“ (Herrschaft der Massen) zu feiern. Mit Slogans wie „Die Revolution ist die Quelle der Entwicklung“ – „Muammar Gaddafi, wir leben durch ihn, wir sterben ohne ihn“ . In unserem Hotel in Tripolis ist zu lesen: „Die Öffnung ist das Morgenrot der Unabhängigkeit“.

Seit Libyen dem Terrorismus verbal entsagt hat und nicht mehr zu Bushs Schurkenstaaten zählt, geben sich beim Erdölriesen europäische und amerikanische Geschäftsleute die Klinke in die Hand. 2003 hat Gaddafi eine neue Phase der Entwicklung, ein liberales Wirtschaftsprogramm angekündigt. Es soll privatisiert, internationale Investoren sollen angelockt, die Produktivität soll gesteigert, sogar der Eigenhausbau durch fast zinslose Kredite gefördert werden. „Das Haus demjenigen, der es bewohnt“, verkündet ein Slogan im ländlichen Djebel Nafusa. Doch politische Öffnung im Inneren der „Dschamahirija“, Meinungs- und Pressefreiheit, Pluralismus? Davon ist nichts zu spüren. Wer an Gaddafis Machtanspruch kratzt, verschwindet im Gefängnis. Von einer Revision der Schulprogramme, der islamischen Erziehung, ist gleichwohl seit kurzem die Rede: Auf die Unterweisung im Dschihad als Mittel zur Verteidigung des muslimischen Glaubens soll verzichtet werden. Auch das Trachten nach der arabischen Einheit soll im Lande des selbst ernannten Champions des Panarabismus kein Unterrichtsthema mehr sein.

Vor der archäologischen Stätte am Meer stehen zwei Reisebusse; Italiener, die das Gros der ausländischen Besucher in Libyen stellen. Sabratha ist wie Oea (Tripolis) und Leptis Magna ursprünglich eine phönizische Stadtgründung aus dem 8. Jh. v. Chr. und gehörte seit etwa 50 v. Chr. zum Römischen Reich. Als bedeutendes Handelszentrum in dem damals fruchtbaren Gebiet unterhielt die Hafenstadt sogar im Hafen von Rom ein eigenes Handelskontor. Den Römern machten die Vandalen (5. Jh.) in der untergehenden Provinz Africa Proconsularis den Garaus, denen wiederum die Byzantiner (6. Jh.), welche ihrerseits dem Ansturm durch arabische Reiter im 7. Jh. weichen mussten. Die waren an Sabratha nur mäßig interessiert, kürten Oea zur Hauptstadt. Die Ausgrabung der antiken Stätten Sabratha und Leptis Magna in den 1920er- und 1930er-Jahren ist das Werk italienischer Archäologen; offensichtlich aus kolonialpolitischem Interesse wurden vor allem die Bauten aus der Römerzeit freigelegt. Als bedeutende Hinterlassenschaft gilt das Theater, das 5.000 Menschen Platz bot.

Ich laufe gern durch antike Stätten, Jahrtausende zusammengedrängt, Flair von Vergänglichkeit und Dauer, Sein und Schein. Da schrumpft die aufgeregte Gegenwart um etliches zusammen. Jedenfalls für einen Augenblick. Unser Guide touristique, nennen wir ihn Khaled, ist Französischlehrer in einer nahen Hotelfachschule. Er spricht mit sanfter Stimme, während er beim Rundgang locker durch die Jahrtausende direkt bis ins Heute springt. Toleranz müsse die Beziehungen zwischen Völkern und Religionen bestimmen. Es gäbe wirklich keinerlei Grund, sich zu bekriegen und schon gar nicht, sich von irgendwelchen Präsidenten wie Bush missbrauchen zu lassen. Was im Irak und Palästina geschehe, sei Unrecht. Jedes Mal entschuldigt er sich fast verlegen für sein Abschweifen.

Am Ende der Führung fordert er uns auf, Fragen über die Lage der libyschen Frau zu stellen, um uns gleich darauf zu erklären, wie gut diese nach libyschem Recht geschützt sei. Polygamie komme vor, wenn sie Probleme wie Kinderlosigkeit, Krankheit und Witwenschaft lösen helfe, sei also zum Besten der Frauen. Polygamie aus anderen Gründen widerspreche dem Islam, zeuge von falschem Verständnis der Religion. Bei der Frage, ob er denn seine eigenen Töchter gern in polygamer Ehe sähe, zögert der Mann einen winzigen Moment, dann sagt er: „Wenn meine Tochter das will, bin auch ich einverstanden.“

Am nächsten Tag steht das berühmte Leptis Magna auf dem Programm. Gleichfalls eine punische Stadtgründung, wo unter römischer Herrschaft noch bis zum Ende des 1. Jahrhunderts das punische Verwaltungssystem funktionierte, lateinische und punische Sprache nebeneinander existierten. Gefördert von seinem berühmten Sohn, dem römischen Kaiser Septimus Severus (193–211), erlebte Leptis mit bis zu 100.000 Einwohnern höchsten Wohlstand. Wovon die archäologische Stätte mit säulenflankierter Prachtstraße, dem Theater mit Blick aufs Meer, riesigen Thermen, dem severischen Forum mit angegliederter Basilika und dem Triumphbogen zu Ehren des Kaisers beredtes Zeugnis ablegt. Seit Ende des 3. Jh. ging es bergab, wozu schwere Erdbeben im 4. Jh. und der Vandaleneinbruch das Ihre beitrugen. Von den Arabern nicht überbaut, liegt das Ruinengelände metertief im Boden und ist erst zu einem Teil freigelegt. Zahllose Säulenschäfte, Mauerbrocken, Kapitelle liegen in der Wandelhalle des severischen Forums herum. Verrostete Gleise, von den Italienern einst verlegt, um schwere Ruinenbrocken zu transportieren, lugen jetzt nutzlos aus dem Grünflaum hervor. „Wir bekommen nicht genügend archäologische Unterstützung aus anderen Ländern“, beklagt sich unser heutiger Führer, der sich Soliman le Magnifique nennt, und schwärmt von der Arbeit der Italiener. Im Telegrammstil spult er das Erlernte ab. „Als die Menschen noch verschiedene Götter hatten, ging alles gut“, erklärt er bei einem der zahllosen Tempel, „die Probleme haben angefangen, seit es nur einen einzigen Gott gibt. Warum, weiß ich nicht …“

Auch Soliman kommt irgendwann auf das Frauenthema und ich werde hellhörig. Alles nur Inszenierung? Das zu propagierende Libyenbild gar Teil der Führung? Das Land setzt neuerdings auf Tourismus, Kultur- und Wüstentourismus, wo es schließlich einiges zu bieten hat.

Aus dem römischen Oea wurde im 7. Jh. unter den Arabern Tripolis. „Tri-Polis“ meinte zuerst die drei Städte Leptis Magna, Oea und Sabratha und stand auch bei der Namensgebung der Region Tripolitanien Pate. Die antike Stadt wurde überbaut. Lediglich in der Nähe des Fischereihafens liegt am Rande der Altstadt der aus hellen Marmorquadern errichtete Marc-Aurel-Bogen aus dem 2. Jh. Die Medina mit zahlreichen Moscheen und den Souks, wo auch Kunstgewerbe aus Ägypten und Tunesien feilgeboten wird, schmiegt sich im rechten Winkel bis in Meeresnähe. In manch einer Altstadtgasse hängen Baugerüste an Häusern mit kritischer Bausubstanz, hie und da hat der Abrissbagger tiefe Löcher geschlagen. Die wuchtigen Mauern der Zitadelle, der früheren Wehranlage, grenzen an den bis spät abends belebten Grünen Platz, der jetzt Märtyrerplatz heißt. Er liegt zwischen der arabischen Altstadt und der angrenzenden Neustadt mit dem ehemals italienischen Kolonialviertel. Das libysche Nationalmuseum ist in der Zitadelle untergebracht. 1988 neu eröffnet, gewährt es auf vier Etagen einen guten Einblick in Geschichte und Kultur von der Prähistorie bis in die Gegenwart.

Um die zahlreichen Exponate aus der römischen Periode, Statuen und feine Mosaiken in bestem Zustand, drängen sich bereits früh morgens französische, italienische, deutsche, japanische Besuchergruppen. Der erste Blick allerdings, schon in der Eingangshalle, gilt Gaddafis Porträt in kupfernem Flachrelief und einem ganz unerwartet hier geparkten VW-Käfer in hellem Blau. Es ist das erste Auto des großen Guide, das, mit dem alles begann …