Der Schusskünstler

Es war einer dieser Momente, die man sich in Erinnerung rufen muss, wenn man das nächste Mal gefragt wird, was am Fußball so faszinierend sein soll. Bis um 16 Uhr 30 lag das Weser-Stadion in kompletter Agonie. Bis zur Pause hatte sich die Mannschaft vom Schock des frühen 0:1 nicht erholt, das von einem schlimmen Fehlpass Assani Lukimyas eingeleitet worden war. Zu allem Überfluss lag der HSV in Braunschweig in Führung.

Doch mit dem Anstoß zur zweiten Halbzeit änderte sich alles. Während in der Vergangenheit der Funke in brenzligen Situationen meist von den Fans gezündet wurde, entfachten jetzt die Spieler neue Hoffnung, die spätestens nach dem Lattenschuss von Junozovic auf die Ränge übersprang und von dort verstärkt zurückkam.

Bis kurz vor Schluss verzeichnete dieses Wechselspiel zwar keinen zählbaren Erfolg, hielt aber eine Spannung hoch, die zwei Spieler zur Hochform puschte. Torwart Raphael Wolf entschärfte mehrfach Konterangriffe, die zur Vorentscheidung geführt hätten. Und Neuzugang Ludovic Obraniak schwang sich in Abwesenheit des verletzten Aaron Hunt zum Mittelfeldmotor hoch.

Als Schiedsrichter Stark in der 88. Minute an der rechten Mönchengladbacher Strafraumecke einen Freistoß pfiff, erinnerten sich viele Zuschauer daran, was sie über den linken Fuß des polnischen Nationalspieler gehört hatten. Wahre Wunderdinge erzählten sich Trainingsbeobachter von dessen Schusskünsten. Die hatte er bei seinem Debut bei der 1:5-Klatsche gegen Borussia Dortmund nicht zeigen können, obwohl er auch da schon mit einigen feinen Aktionen aufgefallen war.

Wie er sich nun selbstgewiss und breitbeinig hinter dem Ball aufstellte und die Energie des bis in die Haarspitzen angespannten Publikums in sich aufsog, das erinnerte an Cristiano Ronaldo oder David Beckham, jedenfalls an einen Spielertyp, der dann den besten Schuss abgibt, wenn es wirklich darauf ankommt. Aber da war noch diese Mauer, und dahinter Nationalkeeper Marc-André ter Stegen, der so gut ist, dass er künftig bei FC Barcelona im Tor stehen wird.

Endlos lange brauchte der Ball, als er kreiselnd über die Mauer flog, sich weiter ansteigend vom angewurzelten ter Steegen nach rechts bewegte und in den Winkel senkte. Die Spannung löste sich in einem Jubelschrei, wie ihn das Weserstadion lange nicht erlebt hat. Selten war ein einziger Schuss, ein einziger damit eingefahrener Punkt so wichtig wie dieser. Und noch seltener ist ein Neuzugang so schnell zum neuen Liebling geworden wie der aus Bordeaux nach Bremen gewechselte Obraniak.  RLO