leserinnenbriefe
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■  „Die Gegner wollen erhalten, nicht verändern“, mischte sich der Architekt des Hauptbahnhofs in Stuttgart, Christoph Ingenhoven, am 13. August 2010 in der taz in die Debatte zu dem geplanten Bahnprojekt in Stuttgart ein. Das Interview provozierte Briefe der Protestierenden, aber auch Zustimmung. Einen kleinen Teil präsentieren wir unseren LeserInnen auf dieser Seite.

Weitere Zuschriften unter:

http://www.taz.de/1/zukunft/wirtschaft/artikel/kommentarseite/1/das-ist-fahrlaessige-meinungsmache/kommentare/1/1/

Unpassende Bemerkungen

■ CAROLA PEIN, Großbettlingen

Herr Ingenhoven sollte sich den Protest gegen „Stuttgart 21“ erst einmal vor Ort anschauen, bevor er unpassende Bemerkungen über die DemonstrantInnen macht. Unter den DemonstrantInnen gibt es viele, die „der älteren Generation angehören“, und bestimmt auch den einen oder die andere „pensionierte LehrerIn“ (und auch die gehen auf Reisen!), aber es gibt jeweils mindestens so viele ganz junge, junge und mittelalte Menschen, die ihren Unmut über das Projekt kundtun, und zwar aus allen Schichten und mit den unterschiedlichsten Professionen! Für mich sind diese Aussagen ein weiterer Grund, den Argumenten der GegnerInnen mehr Glauben zu schenken, denn wenn sogar über die Gruppenzusammensetzung der DemonstrantInnen gelogen wird, warum sollen dann die weiteren Argumente für „Stuttgart 21“ wahr sein?

Teurer Joghurt muss nicht sein

■ KATJA BÜRMANN, Stuttgart

Sehr geehrter Herr Ingenhoven, offensichtlich waren Sie noch nie bei einer der Demonstrationen und haben sich nicht mit dem Protest gegen das Projekt „Stuttgart 21“ befasst. Denn sonst müssten Sie überzeugt sein, dass die Befürworter des Kopfbahnhofs aus allen Schichten und Altersstufen kommen. Ich selbst, Architektin, Mutter zweier Kinder und noch unter 40, kenne zahlreiche Architekten, Stadtplaner und Handwerker, die Sie so einfach vereinnahmen, die gegen das Projekt sind aus einer Vielzahl von Gründen. Wir erleben beispielsweise in diesem Monat die Erhöhung der Kita-Gebühren und zahlreiche Kürzungen im sozialen und kulturellen Bereich, die lange nicht mehr über der Schmerzgrenze liegen. Wir erleben jetzt schon Einschränkungen im S-Bahn-Verkehr. Alles Dinge, die Sie nicht betreffen, aber die Gegner in die Ecke antimodern zu stellen und die Gruppe, die gewaltfreien Widerstand gegen einen zu tiefst undemokratischen Stadtplanungsprozess leistet, militant zu nennen, das ist doch kein ernst zu nehmender Beitrag. Es geht doch nicht darum, dass Ihr Entwurf aus moderner architektonischer Sicht vielleicht einige Qualitäten hat, sondern, dass die Planungsgrundlage schwierig ist, dass die Kosten bei den Stuttgarter geologischen Bedingungen nicht kalkulierbar sind und enorme Risiken tragen. Das hat nichts mit teurerem Joghurt zu tun. Da kann ich selbst entscheiden, ob ich ihn kaufe. Leider kann ich die Kürzungen beim städtischen Kindergartenpersonal nicht ablehnen. Wir BürgerInnen zahlen für etwas, das im Nutzen fragwürdig ist, und wir werden nicht gefragt.

Da geraten Dinge durcheinander

■ SVEN GORMSEN, Tübingen

Da geraten jetzt doch ein paar Dinge durcheinander, die man vielleicht besser auseinanderhalten sollte. Da ist zum einen der alte Bonatz-Bau, der Momente der Antimoderne verkörpert, sowohl was seinen Monumentalismus als auch seine Mittelalterzitate angeht. Zu Zeiten, als er errichtet wurde, war er allerdings auch ein Bauwerk des Antihistorismus, und die Grabenkämpfe zwischen den Modernisierern um Mies van der Rohe oder Walter Gropius und den konservativen Antiweltbürgern um Bonatz und Schmitthenner hatten noch lange nicht begonnen. So oder so ist der Bau ein Denkmal ersten Ranges, und es ist völlig berechtigt, seinen möglichst vollständigen Erhalt erkämpfen zu wollen.

Zum anderen ist gegen die Vorstellung, den eigentlichen Bahnverkehr unter die Erde legen zu wollen, ja eigentlich nichts einzuwenden. Architekturgeschichte ist nur in den seltensten Fällen unter Einbeziehung, meist aber unter Zerstörung vorhandener Bauten fortgeschrieben worden. Erhalt ging fast immer mit Bedeutungsverlust einher (San Gimignano, Pisa, Görlitz). Insofern ist Ingenhovens Einwand zur vorübergehenden Zerstörung des Schlossparks durchaus stichhaltig.

Die Frage aber, ob der neue Bahnhof, vor allem aber die Neubaustrecke gen Ulm tatsächlich den gewünschten Modernisierungsschub in Form von erhöhter Geschwindigkeit und besserer Funktionalität bringt, kann im Moment mit Fug und Recht bezweifelt werden – nicht zuletzt mit Blick auf die ungeheuren Kosten und die Belastung der Stadt über die kommenden Jahre.

Das Projekt ist teuer. Na und?

■ USER MARTIN MENDLER

Sehr gute Argumente! Endlich sagt es mal wieder ein echter Experte ruhig, sachlich und doch mit der nötigen Klarheit! Wie man beim Anblick des derzeitigen Stuttgarter Kopfbahnhofs und der widerlichen Gleisfelder mitten im Zentrum romantisch verklärte Augen kriegen kann und wegen „S 21“ einen „Verlust von Heimat“ befürchtet, bleibt mir schleierhaft!

Natürlich ist das Projekt teuer! Na und! Es geht hier schließlich um eine Investition für die kommenden Jahrzehnte, welche den Schienenverkehr in der ganzen Region Stuttgart voranbringt und der Landeshauptstadt durch die Tieferlegung des Bahnhofs die Chance für eine nachhaltige Innenentwicklung eröffnet, nach der andere Kommunen sich die Finger lecken würden!

Keine Zukunftsverweigerung

■ IAN PORTMAN, Stuttgart

Es gibt schöne moderne Gebäude in Stuttgart, und es gibt hässliche. Sich gegen diesen engen Tunnelrohrbahnhof von „Stuttgart 21“ zu wehren zeigt überhaupt keine Zukunftsverweigerung. Im Gegenteil. Wir wollen, dass eine neue Generation nicht dafür zahlen muss, dass ein undurchdachtes, unbequemes und risikoreiches Konzept durch Politklüngel über unsere Köpfe hinweg durchgesetzt wird.

Verkehrsplanung für die Bürger

■ RALF STIEBER, Karlsruhe

Die Versuche eines Architekten, die Kritik an „Stuttgart 21“ als Haltung von Ewiggestrigen und gleichsam vormodernen Häuslebauern zu diffamieren, sind eher fadenscheinig: Ingenhoven baut zwar Projekte wie die Lufthansa Hauptverwaltung und die Europäische Investitionsbank, er kann also bauen, ist aber kein Verkehrsplaner. Seine Rechtfertigungen sind nicht selbstlos, sondern lassen sich an Eigeninteressen wie der Umsetzung seiner Bauästhetik festmachen. In der Sache sollte es ja nicht in erster Linie um eine zeitgemäße Bauarchitektur, sondern vor allem um eine zukunftsweisende Verkehrsarchitektur gehen, die den Bürgern dient. Da wäre es sinnvoll, sich eher an den Belangen des Nah- und Regionalverkehrs als an den Vorstellungen eines gigantomanen europäischen Schnellbahnnetzes für zahlungskräftige Businesskunden zu orientieren. Die irdische Kopfbahnlösung ist sicherlich nicht mehr up to date, aber die Vorstellung, Schienen samt Bahnhof unterirdisch zu vergraben, ist bestenfalls Verkehrsplanung auf dem Stand der 70er Jahre und der geplante unterirdische Bunkerbahnhof eher der Reflex einer unbeschwerten, völlig losgelösten Wachstumsgesellschaft. Wann hat man in Deutschland endlich den Mut, ein intelligentes Verkehrsnetz zu bauen, vergleichbar mit den jüngsten Bestrebungen im Energiesektor?

Ist das vielleicht die Mehrheit?

■ USER CARSTEN

Herr Ingenhofen hat recht! Wer in der Stadt lebt, muss mit Veränderungen umgehen können. Sollen die Gegner doch aufs Land ziehen. Ich wohne in Stuttgart und freue mich auf eine Ausrichtung der Stadt auf die Zukunft (für mich und meine zwei Kinder). Wer sagt eigentlich, dass eine ganze Stadt rebelliert? So eine Falschaussage: Ein paar tausend Leute aus der ganzen Region mit einer Million Einwohnern rebellieren. Ist das vielleicht die Mehrheit?

Besondere Verantwortung

■ FRANK ODENTHAL, Inzlingen

Ingenhoven verunglimpft den verständlichen Wunsch der Bewohner, in diesem Fall Stuttgarts, nach einer Stadt, deren Architektur ihnen gefallen möge, als Sehnsucht nach „Heimeligem“, versieht sie also mit einem Etikett der Rückwärtsgewandtheit. Er verkennt, dass man sich Architektur im öffentlichen Raum, anders als Malerei und andere Formen der Kunst, die in Galerien und Museen ausgestellt werden kann, nicht entziehen kann. Für einen Bahnhof als zentraler Anlaufstelle der Einwohner der Stadt gilt dies im Besonderen. Dem Architekten kommt daher eine besondere Verantwortung zu, denn er darf nicht nur für den Elfenbeinturm des Architekturseminars entwerfen, sondern muss möglichst alle Schichten der Gesellschaft im Auge behalten. Dieser besonderen Verantwortung wird Ingenhoven nicht gerecht.

Mehr Innovationsfreude

■ USER ROLLE DER 1.

Na ja, „Stuttgart 21“ hin, „Stuttgart 21“ her, ist es in Deutschland doch seit einigen Jahren traurige Tradition, dass jedes größere neue architektonische Vorhaben auf massiven Widerstand stößt. Irgendwer stellt dann immer irgendwie Baumaßnahmen in eine Beziehung mit sozialen Ausgaben. Ist doch in einem Land wie Deutschland, das lange Zeit globale Trends der Architektur beeinflussen konnte, schon schade. Ein bisschen mehr Innovationsfreude fände ich nicht so schlecht.

Im Dienste des Gesamtbildes

■ MARCUS IHLE, Hamburg

Ausgewogene Berichterstattung zu „Stuttgart 21“ auf angenehme Weise per O-Ton des Architekten Ingenhoven. Wenn nun noch eine dritte Säule der Berichterstattung hinzukäme, nämlich die der Energie- und Klimabilanz, dann verdient auch Ihr „dutzende internationale Auszeichnungen“, ganz wie Herr Ingenhoven für seinen Bahnhofsentwurf. Einen Schritt zurücktreten und das ganze Bild ansehen: CO2- und Energiebilanz von ICE-Tempowahn und Bauvorhaben, von Bimmelbahntod bis Zementherstellung. Sicherlich keine neuen Themen, aber einer Betrachtung wert – im Dienste des Gesamtbildes.